Szenario: Türkische Intervention gegen Kurden verhindert Stabilität in Syrien
In den letzten Wochen haben sich die Spannungen zwischen der Syrischen Nationalarmee (SNA) und den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) im Nordosten Syriens erheblich verschärft. Die SNA, unterstützt von der Türkei, hat mehrere Angriffe auf von der SDF kontrollierte Gebiete gestartet, insbesondere in der Region nördlich von Aleppo. Diese Offensive zielt darauf ab, die kurdischen Gebiete zurückzuerobern und die Präsenz der SDF, die von der Türkei als terroristische Organisation eingestuft wird, zu eliminieren.
Geschichte der Kurden in Syrien
Die Kurden sind eine der ältesten ethnischen Gruppen im Nahen Osten, deren Siedlungsgebiet sich über die heutigen Staaten Türkei, Iran, Irak und Syrien erstreckt. In Syrien stellen sie die größte ethnische Minderheit dar. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall des Osmanischen Reiches wurden die kurdischen Gebiete ohne eigene Staatlichkeit aufgeteilt. In Syrien waren die Kurden jahrzehntelang staatlicher Unterdrückung ausgesetzt, einschließlich der Aberkennung der Staatsbürgerschaft für etwa 120.000 Kurden in den 1960er Jahren.
Das heutige Autonomiegebiet der Kurden in Syrien
Während des syrischen Bürgerkriegs ab 2011 nutzten die Kurden das Machtvakuum, um in Nordsyrien autonome Strukturen aufzubauen, bekannt als Rojava. Die Partei der Demokratischen Union (PYD) und ihr militärischer Arm, die Volksverteidigungseinheiten (YPG), spielten dabei eine zentrale Rolle. Später formierten sie sich mit arabischen und assyrischen Milizen zu den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF), die maßgeblich an der Bekämpfung des Islamischen Staates beteiligt waren. Rojava erstreckt sich über etwa ein Drittel der Landesfläche Syriens und umfasst wichtige Städte wie Kobane, Qamishli und al-Hasaka. Qamishli gilt als Zentrum der kurdischen Organe und liegt im Nordosten Syriens, nahe der Grenze zur Türkei und in der Nähe des Irak. Die Stadt ist das Verwaltungszentrum der autonomen Region Rojava und beherbergt viele der politischen und administrativen Institutionen der Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens. Hier hat die kurdische Partei PYD (Partei der Demokratischen Union) ihren Hauptsitz, und wichtige Entscheidungen für die Region werden dort getroffen.
Die Verwaltung von Rojava basiert auf einem System der demokratischen Selbstverwaltung, das von der Partei der Demokratischen Union (PYD) organisiert wird. Dieses Modell umfasst lokale Räte, in denen verschiedene ethnische Gruppen wie Kurden, Araber, Assyrer und Armenier vertreten sind. Besondere Aufmerksamkeit wird der Gleichstellung der Geschlechter gewidmet, und Frauen spielen eine zentrale Rolle in den politischen und militärischen Strukturen. Die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), der weibliche Arm der YPG, symbolisieren diese Gleichberechtigung und haben während des Kampfes gegen den IS internationale Aufmerksamkeit erlangt.
Wirtschaftlich ist Rojava stark abhängig von der Landwirtschaft und der Kontrolle über Ölressourcen, insbesondere in der Region Deir ez-Zor. Diese Ressourcen sind jedoch begrenzt zugänglich, da die Türkei wirtschaftlichen Druck ausübt, indem sie den Handel und die Versorgung blockieren. Dennoch versuchen die kurdischen Gebiete, ihre Autonomie durch lokale Produktion und internationale Unterstützung, vor allem aus den USA und Europa, zu erhalten.
Die Bestrebungen der Kurden, einen eigenen Staat zu gründen
Die Kurden verfolgen seit Jahren das Ziel, einen eigenen, international anerkannten Staat zu gründen, der ihre kulturelle Identität, politische Autonomie und Sicherheit gewährleistet. Dieses Streben ist eng mit der Vision eines vereinten Kurdistans verbunden, das kurdische Gebiete in Syrien, der Türkei, dem Irak und dem Iran umfasst. Dies will die Türkei unter Erdogan unbedingt verhindern.
Türkische Interessen und die Rolle der SNA
Die Türkei betrachtet damir die YPG und damit auch die SDF als Ableger der in der Türkei verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und somit als Bedrohung für ihre nationale Sicherheit. Ankara hat daher die Syrische Nationalarmee (SNA) als Proxy aufgebaut und unterstützt sie militärisch, um gegen die SDF vorzugehen und die Entstehung eines autonomen kurdischen Gebiets an ihrer Grenze zu verhindern. Die SNA besteht aus verschiedenen Rebellengruppen, die von der Türkei finanziert und ausgerüstet werden.
Der schlimmste anzunehmende Fall: Ein Stellvertreterkrieg zwischen Türken und Kurden
Ein Stellvertreterkrieg zwischen der Türkei und den Kurden in Syrien könnte den ohnehin fragilen Friedensprozess vollständig zerstören. Sollte die Türkei ihre militärischen Operationen gegen die SDF ausweiten und die Syrische Nationalarmee (SNA) massiv verstärken, könnten die Kämpfe eine neue Eskalationsstufe erreichen. Gleichzeitig könnten die Kurden vermehrt auf Unterstützung durch die PKK sowie kurdische Netzwerke im Irak und Iran setzen, was den Konflikt auf eine regionale Ebene ausweiten würde.
Ein solcher Krieg würde Syrien in eine noch tiefere humanitäre Krise stürzen. Millionen von Zivilisten, die bereits unter der Zerstörung des Landes leiden, könnten erneut vertrieben werden. Flüchtlingsbewegungen in Nachbarländer wie den Libanon, die Türkei und Jordanien könnten diese Länder destabilisieren, während Europa erneut mit steigenden Flüchtlingszahlen konfrontiert würde.
Geopolitische Auswirkungen eines türkisch-kurdischen Konflikts in Syrien
Geopolitisch würde ein solcher Stellvertreterkrieg die Spannungen zwischen globalen Akteuren wie den USA, Russland und der EU erhöhen. Die USA, die die SDF als Partner im Kampf gegen den IS unterstützt haben, könnten in eine schwierige Lage geraten, da sie gleichzeitig die Türkei als NATO-Verbündeten nicht verlieren wollen. Russland und der Iran, die enge Beziehungen zur syrischen Regierung pflegen, könnten versuchen, die Situation für ihre eigenen Interessen auszunutzen, was zu einer weiteren Verschärfung der Spannungen in der Region führen würde.
Ein Stellvertreterkrieg könnte auch neue Terrororganisationen hervorbringen, die das Machtvakuum ausnutzen, um Einfluss in Syrien zu gewinnen. Damit würde die Gefahr wachsen, dass Syrien erneut ein Ausgangspunkt für globale Sicherheitsbedrohungen wird. Letztlich würde ein ausgedehnter Konflikt jegliche Bemühungen um eine Befriedung Syriens unmöglich machen und das Land weiter ins Chaos stürzen.
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