Gefahr oder Eskalationsrhetorik: Wie nah ist Teheran wirklich an der Atombombe?
Das iranische Atomprogramm hat sich seit dem Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen (JCPOA) im Jahr 2018 in atemberaubender Geschwindigkeit und Verfahrenstiefe weiterentwickelt. Bereits 2019 kündigte Teheran offiziell an, die technischen Beschränkungen des Atomabkommens schrittweise auszusetzen – eine Reaktion auf den einseitigen Rückzug der USA und die daraufhin verschärften Sanktionen. Seitdem hat Iran zwei zentrale Säulen des JCPOA systematisch unterlaufen: die technische Begrenzung der Urananreicherung und die internationale Kontrolle durch die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO).
Urananreicherung und Vorräte
Iran reichert Uran inzwischen auf bis zu 60 % an – ein Wert, der weit über den im JCPOA erlaubten 3,67 % liegt und den Sprung zu waffenfähigem Material (über 90 %) technisch erheblich erleichtert. Nach Angaben der IAEO verfügte Iran im Februar 2025 über rund 7.464 kg angereichertes Uran (in Form von Uranhexafluorid), davon 274,8 kg auf 60 %. Das ist fast das 25-fache der im JCPOA erlaubten Menge. Iran ist damit der einzige Nicht-Atomwaffenstaat, der Nuklearmaterial in diesem Umfang produziert. Besonders alarmierend: Die regelmäßige Anreicherung auf 20 % und 60 % ermöglicht es, mit vergleichsweise geringem technischem Aufwand auf den für Atomwaffen nötigen Wert von über 90 % zu springen.
Technische Infrastruktur und Schutzmaßnahmen
Das iranische Atomprogramm ist heute dezentral organisiert und umfasst zahlreiche, teils tief unterirdisch gelegene Anlagen. Die wichtigsten Urananreicherungsstätten befinden sich in Natanz und Fordo. Natanz liegt etwa 225 km südlich von Teheran und kann laut IAEO bis zu 50.000 Gaszentrifugen aufnehmen. Fordo ist noch besser geschützt: Die Anlage liegt 80 bis 90 m tief im Gebirge und ist damit selbst für bunkerbrechende Raketen schwer zu zerstören. Nach mehreren Sabotageakten und Cyberangriffen – etwa durch den Computerwurm „Stuxnet“ – hat Iran zusätzliche Schutzmaßnahmen ergriffen. So wurde nach einem Blackout 2020/2021 in Natanz ein neuer, noch tiefer gelegener Untergrundkomplex gebaut, der schätzungsweise 80 bis 100 m tief im Fels liegt.

Vielfalt der Nuklearinfrastruktur
Das Programm besteht nicht nur aus Anreicherungsanlagen. Es umfasst Forschungseinrichtungen, ein funktionsfähiges Kernkraftwerk (Buschehr), Produktionsstätten für Zentrifugen und mehrere weitere Anreicherungs- und Wiederaufbereitungsanlagen. Die Standorte erstrecken sich von Karaj im Norden bis Buschehr am Persischen Golf im Süden. Der Reaktor in Buschehr wurde mit russischer Hilfe fertiggestellt und ist seit 2011 am Netz. Iran plant zudem den Bau weiterer Atomkraftwerke und hat bereits Verträge für neue 1.000-MW-Anlagen abgeschlossen.
Know-how und internationale Beschaffung
Ein Großteil des technischen Know-hows stammt aus dem Ausland. In den 1980er Jahren beschaffte sich Iran mit Hilfe des pakistanischen Ingenieurs Abdul Kadir Khan Anleitungen zum Bau von Zentrifugen, die auch für waffenfähige Urananreicherung geeignet sind. Die Entwicklung neuer Zentrifugengenerationen und Experimente mit Uranmetall – ein wichtiger Schritt für die Waffenentwicklung – laufen parallel. Iran experimentiert zudem mit der Umwandlung von Uranhexafluorid in Metallform, was für die Herstellung von Sprengköpfen entscheidend ist.
Die Eskalation: Militärische Angriffe auf iranische Nuklearanlagen
In den frühen Morgenstunden des 13. Juni griff die israelische Luftwaffe mit mehreren Angriffswellen zentrale Anlagen des iranischen Atomprogramms sowie militärische Einrichtungen an. Man begründete die Angriffe damit, dass der Iran bei seinem Atomprogramm eine unumkehrbare Schwelle erreicht habe und nach israelischer Einschätzung kurz davor stand, Uran auf militärisches Niveau anzureichern und damit innerhalb kurzer Zeit eine Atomwaffe herstellen zu können. Zudem verwies Israel auf geheime Experimente iranischer Atomwissenschaftler und die fortgesetzte Unterstützung und Bewaffnung feindlicher Stellvertreter im Nahen Osten, wodurch eine akute Bedrohung für die israelische Sicherheit gesehen wurde.

Die USA beteiligten sich in der Nacht auf den 22. Juni 2025 mit eigenen Luftstreitkräften und brachten bei den Angriffen militärisch Skills ein, die Israel fehlen: insbesondere den Einsatz von schweren bunkerbrechenden Waffen und B2-Langstreckenbombern, um tief unterirdisch geschützte iranische Atomanlagen zu erreichen. Die USA und Israel führten diese Luftschläge auf zentrale iranische Atomanlagen durch – darunter Natans, Isfahan und Fordo.
Nach Angaben des Pentagons wird das iranische Atomprogramm dadurch um bis zu zwei Jahre zurückgeworfen. Während das Weiße Haus von einer „vollständigen Zerstörung“ der Anlagen spricht, zeigt sich aber bereits jetzt ein anderes Bild: Selbst breit angelegte Luftschläge können das iranische Atomprogramm nur verzögern, nicht zerstören. Das technische Wissen ist im Land vorhanden und kann nicht ausgelöscht werden. Nach Zerstörung der Infrastruktur könnten Anlagen wieder aufgebaut werden. Zudem hat der Iran, der seit langem mit israelischen Angriffen rechnet, möglicherweis längst wichtige technische Infrastruktur und Material in Sicherheit gebracht.
Die israelische Luftwaffe zerstörte bereits 1981 den Osirak-Reaktor im Irak und 2007 den Al-Kibar-Reaktor in Syrien. Im Unterschied dazu ist das inneriranische Programm jedoch dezentral, redundant und zum Teil so tief unter der Erde angelegt, dass selbst massive Luftangriffe es nur schwer dauerhaft ausschalten können. Nach früheren Angriffen hat Iran beschädigte Anlagen schnell wiederaufgebaut und besser geschützt.

Die aktuellen Angriffe richteten sich zudem keineswegs ausschließlich gegen Ziele, die direkt oder indirekt mit dem Atomprogramm in Verbindung standen. In Teheran und anderen Städten wurden Wohngebiete getroffen, es gibt hunderte Tote und tausende Verletzte. Auch die eh schon problemschwangere iranische Energieversorgung wurde direkt angegriffen, was unmittelbar das zivile Leben beeinträchtigt.
Die Völkerrechtsfrage
Die israelischen Angriffe auf iranische Ziele stellen nach überwiegender Auffassung von Völkerrechtlern zudem einen klaren Verstoß gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot aus Artikel 2 der UN-Charta dar, da kein unmittelbarer, gegenwärtiger bewaffneter Angriff des Iran vorlag. Das von Israel geltend gemachte Recht auf präventive Selbstverteidigung ist völkerrechtlich nur unter sehr engen Voraussetzungen zulässig, die im vorliegenden Fall nach Ansicht der meisten Experten nicht erfüllt waren. Besonders kritisch wird bewertet, dass bei den Angriffen auch zivile Ziele angegriffen und gezielt Wissenschaftler und deren Familien ausgeschaltet wurden, was nach humanitärem Völkerrecht ausdrücklich verboten ist und als schwerer Verstoß gegen internationale Schutzpflichten gilt.
Irans Bevölkerung: Zwischen Unsicherheit und Loyalität
Die iranisch Bevölkerung ist verunsicherter denn je, viele machen zwar die eigene Führung für die Eskalation verantwortlich andere Teile jedoch stehen gefestigter hinter dem Mullah-Regime. Eine Sturz des Regimes von innen heraus ist nicht zu erkennen – zumindest fehlen dazu klare, geschlossene und vorallem breite Bestrebungen innerhalb der Bevölkerung.

Inszenierte Panik: Israel und die Geschichte von der akuten atomaren Bedrohung
Stellt sich also die Frage, ob die Angriffe Israels auf iranische Nuklearanlagen zumindest moralisch zu rechtfertigen waren und ob der Grund auch tatsächlich Grund für einen kriegerischen Akt war.
Aus Sicht vieler internationaler Beobachter hätte es Alternativen zur militärischen Eskalation gegeben. Die diplomatischen Kanäle waren nicht vollständig ausgeschöpft, und es gab weiterhin Möglichkeiten, über internationale Kontrolle und gezielte Sanktionen Druck auf Teheran auszuüben. Eine weitere Gesprächsrunde zwischen den USA und Iran standen kurz bevor. Und vorallem: für all das wäre Zeit gewesen.
Breakout Time
Die sogenannte „Ausbruchszeit“ (breakout time), also die Zeitspanne, die ein Staat benötigt, um ausreichend waffenfähiges Material für eine Atombombe herzustellen, dürfte zur Umsetzung des Atomabkommens ein Jahr nicht unterschreiten. Durch die massive Ausweitung der Kapazitäten ist diese Frist seitens Irans heute tatsächlich auf wenige Wochen geschrumpft. Nach Schätzungen von Proliferationsexperten könnte Iran innerhalb von zwei Wochen genug Spaltmaterial für fünf bis sechs Atombomben produzieren. Für den Bau einer einsatzfähigen Bombe wären allerdings noch weitere Schritte nötig: Die Überführung des Materials in Metallform, die Entwicklung eines geeigneten Waffendesigns, die Integration in ein Trägersystem und gegebenenfalls eigene Tests.
Die technische Realität: Anreicherung ist nicht gleich Atombombe
Ein zentraler Punkt, der in der aktuellen Debatte also oft übersehen wird, ist die Tatsache, dass die Anreicherung von Uran – selbst auf hohe Werte wie 60 % – noch lange nicht bedeutet, dass ein Staat tatsächlich über einsatzfähige Atomwaffen verfügt, denn zwischen der Anreicherung und dem Bau einer funktionierenden Atombombe liegen erhebliche technische und zeitliche Hürden:
- Anreicherung auf Waffenfähigkeit: Für eine Atombombe wird Uran mit einem Anreicherungsgrad von über 90 % benötigt. Der Sprung von 60 % auf 90 % ist technisch zwar deutlich einfacher als die ersten Schritte der Anreicherung, kann aber dennoch weitere Wochen in Anspruch nehmen. Entscheidend ist jedoch: Selbst wenn Iran diesen Schritt vollzieht, ist damit noch keine einsatzfähige Waffe vorhanden.
- Weitere technische Hürden: Nach der Anreicherung muss das Uran in eine waffenfähige Form gebracht werden, etwa als Uranmetall. Es bedarf eines komplexen Designs für den Sprengkopf, umfangreicher Tests und der Entwicklung geeigneter Trägersysteme (z. B. ballistische Raketen). Diese Schritte sind technisch anspruchsvoll und erfordern Zeit, Erfahrung, eine experimentelle Vorgehensweise und Waffentests. Experten betonen, dass dieser Prozess Monate bis Jahre dauern kann, selbst wenn das Material bereits vorliegt.
- Fehlende Beweise für eine unmittelbare Bedrohung: Nahezu alle Internationalen Experten sind sich einig, dass der Iran zwar die technischen Voraussetzungen für eine schnelle Anreicherung geschaffen hat, aber bislang keine Beweise vorliegen, dass tatsächlich an einer einsatzfähigen Atombombe gearbeitet wird. Die Anreicherung allein ist daher eher als politisches Druckmittel und Signal an die internationale Gemeinschaft zu verstehen, nicht als unmittelbare Vorbereitung auf einen Atomwaffeneinsatz durch Iran.
Die Angriffe Israels erscheinen vor diesem Hintergrund als völkerrechtlich nicht gedeckelte Reaktion auf eine potenzielle, aber nicht unmittelbar bevorstehende Bedrohung. Sie haben die Eskalationsspirale weitergedreht, ohne das eigentliche Problem einer iranischen Atombewaffnung dauerhaft zu lösen. Vielmehr wurde die Rückkehr an den Verhandlungstisch erschwert und die Gefahr einer weiteren Destabilisierung der Region erhöht. Die internationale Kontrolle und diplomatische Einbindung Irans bleiben daher die einzig möglichen Instrumente, um eine nukleare Eskalation nachhaltig zu verhindern.
Reaktionen im Iran: Diskursverschiebung und innenpolitische Radikalisierung
Nach den Angriffen verschiebt sich der politische Diskurs im Iran radikal. Einflussreiche Politiker fordern im Staatsfernsehen, die Urananreicherung künftig „ohne Bedingungen“ und „nach eigenen Bedürfnissen“ durchzuführen – auch bis zu 90 %. Die Bereitschaft, mit den USA oder der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) zu verhandeln, sinkt rapide. Die Zusammenarbeit mit der IAEO wird auf Beschluss des Parlaments ausgesetzt, internationale Inspekteure werden nicht mehr zugelassen.
Die Führung betont, dass man sich von Angriffen nicht einschüchtern lasse und im Gegenteil das Atomprogramm weiter ausbauen werde. Die Bevölkerung ist gespalten: Während die politische Elite auf Konfrontation setzt, wächst unter den Menschen die Angst vor weiterer Eskalation und wirtschaftlicher Not.
Das nukleare Nichtverbreitungsregime (NPT) steht unter massivem Druck. Andere Staaten – etwa Saudi-Arabien oder Südkorea – erwägen, eigene Atomprogramme zu starten.
Zukunftsszenarien: Eskalation oder neue Einigung?
Die Zukunft des iranischen Atomprogramms bleibt unverändert ungewiss. Szenarien reichen von einer weiteren Eskalation – Ausstieg Irans aus dem NPT und einer offenen Atombewaffnung – bis zu einer neuen diplomatischen Einigung mit umfassender Kontrolle des Programms und schrittweiser Aufhebung der Sanktionen.
Abkürzung | Erklärung |
---|---|
JCPOA | Joint Comprehensive Plan of Action – Gemeinsamer umfassender Aktionsplan (Atomabkommen) |
IAEO | Internationale Atomenergieorganisation – Internationale Behörde zur Überwachung der Atomenergie |
NPT | Nuclear Non-Proliferation Treaty – Atomwaffensperrvertrag |
EU | Europäische Union |
E3 | Gruppe der drei europäischen Staaten: Deutschland, Frankreich, Großbritannien |
B2 | B-2 Spirit – Tarnkappenbomber der US-Luftwaffe |
MW | Megawatt – Maßeinheit für Leistung (z.B. bei Kraftwerken) |
Proliferation | Weitergabe von Atomwaffen oder Mitteln zu deren Herstellung |