Ägypten 2025 Titel
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Ägypten im September 2025: Beschneidungen und Kompromisse im Schatten der Pyramiden

Lizenzartikel von Jürgen Dirrigl – Titelbild und alle nicht gekennzeichneten Bilder im Artikel : AMEPRES
Der Bus vibrierte leise, während er die breite Straße entlangrollte, die sich aus der Wüste ins grüne Band des Nils hineinschnitt. Clara saß am Fenster, die Stirn an die kühle Scheibe gelehnt, und sog die Landschaft in sich auf. Palmen glitten vorbei, dahinter kleine Dörfer, deren Häuser aus Lehm und Beton wie verstreut in der Sonne lagen. Sie war zum ersten Mal in Ägypten, eine Studienreise, die sie monatelang geplant hatte. Eigentlich hatte sie gedacht, sie würde über Pyramiden sprechen, über Tempel und Geschichte. Doch nun, auf der Rückbank des Busses, sollte sich ein anderes Gespräch in ihr Gedächtnis brennen.

Neben ihr hatte sich Shaimaa gesetzt, eine zierliche Studentin aus Qena, die ein paar Vorlesungen in Kairo besucht und für ein Praktikum zurück ins Elternhaus fuhr. Sie war neugierig, ihr Englisch freundlich und vorsichtig, und so sprachen die beiden jungen Frauen bald über Prüfungsstress, über die Hitze und über das Leben zwischen Universität und Familie. Clara fühlte sich aufgehoben in dieser Begegnung, als wäre sie für einen Moment nicht Touristin, sondern Teil eines vertrauten Austauschs.

Dann veränderte sich die Stimmung. Shaimaa erwähnte, fast beiläufig, dass ihre kleine Cousine „bald dran“ sei. Clara verstand nicht sofort, fragte nach, und ihre Sitznachbarin senkte den Blick. Mit einer ruhigen Stimme, die fast mechanisch wirkte, erklärte sie, dass im Dorf bald ein Fest stattfinden würde, bei dem die Mädchen beschnitten werden. Clara stockte, sie wusste kaum, wie sie reagieren sollte. Der Bus fuhr weiter durch das helle Land, während sie versuchte, Worte zu finden, doch Shaimaa sprach weiter: „Es ist immer so gewesen. Meine Mutter, meine Tanten, ich selbst. Niemand stellt das hier infrage.“

Clara runzelte die Stirn. „Aber ist das nicht verboten?“, fragte sie schließlich. Sie erinnerte sich an Berichte, die sie gelesen hatte, in denen von einem Verbot seit vielen Jahren die Rede war. Shaimaa nickte langsam. „Ja, es gibt ein Gesetz. Die Polizei kontrolliert das nicht. Auch deren Töchter sind ja beschnitten. Es geht weiter, ist, wie es immer war. Manchmal machen es Hebammen, manchmal Ärzte. Manche Familien sagen, es sei sicherer im Krankenhaus, wenn man bezahlen kann. Aber die meisten haben dafür kein Geld.“ Sie schwieg einen Moment, als überlegte sie, ob sie zu viel erzählt hatte. Dann hob sie die Schultern, fast entschuldigend. „Es gehört einfach dazu. Alle wissen, dass es verboten ist. Aber niemand denkt, dass es aufhört.“

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Clara sah sie an, suchte nach einer Antwort, fand aber keine. Der Bus fuhr weiter, die Felder zogen vorbei, und Clara fragte sich, wie es sein konnte, dass in einem Land, in dem täglich Abertausende Touristen zu den Pyramiden fahren oder am Roten Meer tauchen, in den Dörfern gleich neben der Route eine Realität herrschte, die kaum jemand bemerkte. All diese Reisenden sahen Tempel, Hotels und Strände, machten Fotos und nahmen Eindrücke mit nach Hause, während das, was in den Häusern hinter den Feldern geschah, unsichtbar blieb. Und gerade deshalb stellt niemand mehr die Fragen – über das Land selbst, über seine Menschen und darüber, wie Ägypten jenseits der Kulissen wirklich funktioniert.

Ein erster Überblick: worüber man in Ägypten sprechen muss

Wer in diesen Tagen durch Ägypten reist, begegnet auf Schritt und Tritt den Kontrasten, die das Land im Jahr 2025 prägen. Gleich neben den touristischen Routen, die jedes Jahr Millionen Besucher zu den Pyramiden, auf Nilkreuzfahrten oder ans Rote Meer führen, halten sich Praktiken wie die weibliche Beschneidung hartnäckig. Offiziell seit Jahren verboten, wird sie in Dörfern bis heute durchgeführt, oft im Verborgenen. Dass diese Realität für die meisten Reisenden unsichtbar bleibt, ist bezeichnend für ein Land, in dem Licht und Schatten so eng nebeneinanderstehen.

Auch die politische und gesellschaftliche Lage ist von dieser Gleichzeitigkeit geprägt. Einerseits präsentiert sich die Regierung als stabiler Pfeiler in einer unruhigen Region, mit einem Präsidenten, der seine Macht fest in den Händen hält. Andererseits ist die Gesellschaft von einem Klima geprägt, in dem Kritik nur in engen Grenzen möglich ist. Medien werden reguliert, Aktivisten festgenommen, prominente Fälle wie die Begnadigung von Alaa Abd el-Fattah zeigen, wie sehr politische Entscheidungen auch über persönliche Schicksale bestimmen.

Wirtschaftlich befindet sich Ägypten in einer Phase des Übergangs. Nach Jahren hoher Inflation und Währungsabwertung ist das Land 2025 wieder in ruhigerem Fahrwasser angekommen. Der IWF lobt die Regierung für harte Maßnahmen, die Teuerungsraten sind gefallen, die Devisenreserven gewachsen. Doch die Realität im Alltag bleibt schwierig: Preise für Grundnahrungsmittel sind hoch, viele Familien kämpfen mit sinkender Kaufkraft. Gleichzeitig versucht die Regierung, durch Privatisierungen, internationale Investitionspakete und Großprojekte wieder Vertrauen zu gewinnen. Der Einbruch der Einnahmen aus dem Suezkanal – verursacht durch die Angriffe im Roten Meer und die Umleitung von Schiffen – hat deutlich gemacht, wie verletzlich die Wirtschaft bleibt.

Auch die Energiefrage spielt eine Schlüsselrolle. Gas ist nach wie vor die tragende Säule des Stromsektors, doch die Produktion schwächelt, vor allem im einstigen Vorzeigeprojekt Zohr. Importiertes Flüssiggas und Pipeline-Lieferungen aus Israel sind zur Stütze geworden, während Lastabschaltungen in heißen Sommermonaten das Leben vieler Menschen beeinträchtigen. Gleichzeitig wirbt Kairo international mit ehrgeizigen Zielen im Bereich erneuerbare Energien und Wasserstoff, um Investoren und Partner anzuziehen.

Die humanitäre Lage bleibt angespannt. Armut, ungleiche Chancen zwischen Stadt und Land und systemische Probleme wie weibliche Beschneidung, die Unterdrückung kritischer Stimmen oder langwierige Haftstrafen zeichnen ein Bild, das dem internationalen Image eines aufstrebenden Investitionsstandorts gegenübersteht. Zugleich wird das Land von regionalen Krisen direkt berührt. Der Gaza-Krieg hat Ägypten an der Rafah-Grenze in eine Schlüsselrolle gedrängt, während am Nil die Auseinandersetzung mit Äthiopien über den GERD-Staudamm ungelöst bleibt.

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Geopolitisch versucht Ägypten, seine Position zwischen den Blöcken zu wahren. Die enge Bindung an die Golfstaaten, Investitionsabkommen mit den Emiraten, Katar und Saudi-Arabien, milliardenschwere Zusagen der Europäischen Union und die sicherheitspolitische Partnerschaft mit den USA zeigen die strategische Bedeutung Kairos. Gleichzeitig sucht das Land neue Allianzen im globalen Süden und positioniert sich als Vermittler in Konflikten, auch wenn die eigenen Schwächen im Inneren das außenpolitische Gewicht begrenzen.

Im Gesamtbild zeigt sich ein Land voller Gegensätze: zwischen sichtbaren Erfolgen und unsichtbaren Realitäten, zwischen wirtschaftlicher Stabilisierung und sozialem Druck, zwischen touristischer Fassade und den ungelösten Fragen des Alltags. Hinter diesen Kontrasten liegen jedoch Schichten, die man nicht auf den ersten Blick erkennt. Wer Ägypten wirklich verstehen will, muss tiefer eintauchen – in die Strukturen von Politik und Wirtschaft, in die Härten des Alltags und in die Kräfte, die das Land nach außen wie nach innen prägen.

Macht und Struktur: Wie Ägypten regiert wird

Ägypten bezeichnet sich offiziell als präsidiale Republik mit einer Verfassung, einem Parlament und regelmäßigen Wahlen. In der Realität jedoch ist das politische System stark autoritär geprägt, die entscheidende Macht liegt beim Präsidenten, den Sicherheitsapparaten und dem Militär.

An der Spitze des Staates steht seit 2014 Abdel Fattah al-Sisi, der 2013 als damaliger Verteidigungsminister den gewählten Präsidenten Mohammed Mursi stürzte. Im Dezember 2023 wurde Sisi für eine weitere sechsjährige Amtszeit wiedergewählt. Kritiker bemängelten, dass diese Wahl weder frei noch fair verlief, da die staatlichen Institutionen und Medien klar auf der Seite des Amtsinhabers standen. Oppositionelle Kandidaten traten kaum an, wurden behindert oder hatten schlicht keine realistische Chance. Damit setzte sich ein Muster fort, das seit Jahren gilt: politische Gegner werden durch rechtliche Hürden, mediale Kampagnen oder direkte Einschüchterung weitgehend aus dem öffentlichen Raum verdrängt.

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Seit 2014 Präsident: Abdel Fattah al-Sisi

Das Parlament besteht aus zwei Kammern: dem Repräsentantenhaus und dem Senat. Das Repräsentantenhaus, das aus mehr als 500 Abgeordneten besteht, wird alle fünf Jahre gewählt. Zwar gibt es formal Parteien, doch die überwältigende Mehrheit der Sitze wird von Abgeordneten eingenommen, die dem Präsidenten nahestehen oder von ihm unterstützt werden. Der Senat dient eher beratenden Funktionen und spielt bei der Gesetzgebung nur eine untergeordnete Rolle. Oppositionelle Parteien sind auf dem Papier vorhanden, haben aber keine reale Machtbasis.

Die Regierungsarbeit wird offiziell vom Premierminister und dem Kabinett getragen. Doch die Entscheidungswege laufen in Wirklichkeit fast immer über den Präsidenten, das Militär und die Geheimdienste. Vor allem das Militär hat eine zentrale Rolle: Es ist nicht nur für die Sicherheit verantwortlich, sondern kontrolliert große Teile der Wirtschaft, von Bauprojekten bis hin zu Nahrungsmittelunternehmen. Damit ist es mehr als nur ein Arm der Armee – es ist ein entscheidender Machtfaktor in Politik und Alltag.

Unabhängige Institutionen wie die Justiz oder die Presse sind eng an den Staat gebunden. Zwar existiert formal eine Verfassungsordnung, die Gewaltenteilung vorsieht, doch die politische Realität weicht davon deutlich ab. Richter werden vom Präsidenten ernannt, viele Verfahren sind politisch gefärbt, und Medien unterliegen strenger Aufsicht. Kritische Stimmen werden rasch eingeschränkt – sei es durch restriktive Gesetze, die Nutzung von Anti-Terror-Bestimmungen oder durch direkte Festnahmen.

Die Entscheidungsfindung in Ägypten läuft damit in einer engen Kette: von Präsident und Sicherheitsapparat über loyale Minister und Parlamentarier bis in die Verwaltung. Protestbewegungen, wie sie in den Jahren nach 2011 zu sehen waren, werden heute mit Repression beantwortet. Dass die Bevölkerung nicht massenhaft aufbegehrt, liegt an einer Mischung aus politischer Kontrolle, wirtschaftlicher Abhängigkeit und dem Eindruck, dass Alternativen fehlen. Viele Menschen haben im Alltag kaum Vertrauen, dass eine offene Opposition Veränderung bringen könnte.

Im Ergebnis ist Ägypten ein Staat mit republikanischer Verfassung und demokratischen Institutionen auf dem Papier, in der Realität jedoch ein autoritär geführtes System, in dem die Macht in den Händen des Präsidenten und des Militärs konzentriert ist. Wer verstehen will, wie Entscheidungen in Ägypten getroffen werden, muss also nicht in die Parlamentsprotokolle schauen, sondern auf die Präsidialpaläste und die Kasernen.

Ägypten von innen: Die heutige Gesellschaft, Recht und Alltag

Das Ägypten des Jahres 2025 zeigt sich nach innen als ein Land voller Spannungen, Widersprüche und mühsamer Balanceakte. Hinter den touristischen Fassaden und quirligen Bazaren verbirgt sich eine Gesellschaft, die von sozialen Ungleichheiten, restriktiver Politik und einem schwierigen Alltag geprägt ist. Wer verstehen will, wie Ägypten funktioniert, muss genau hier hinschauen – in die Mechanismen, die das tägliche Leben der Menschen bestimmen.

Die Gesellschaft ist nach wie vor stark hierarchisch organisiert. Familien- und Stammesbindungen sind entscheidend für den sozialen Status. Stammesstrukturen spielen vor allem in Oberägypten, im Nildelta und in den Beduinengesellschaften der Sinai-Halbinsel eine zentrale Rolle. Zu den prägenden Stämmen gehören etwa die Sawarka, die Tarabin oder die Rumailat im Norden des Sinai, die traditionell Kontrolle über Handelswege oder Grenzregionen haben. In Oberägypten dominieren große Clanverbände, die oft mehrere Dörfer vernetzen und informell Konflikte schlichten oder Normen definieren. Für Außenstehende erscheinen sie wie parallele Machtzentren: In vielen Dörfern entscheiden Älteste oder Stammesratsgremien über Heirat, Erbstreitigkeiten oder Dorfregeln – und sie geben dabei auch die moralischen Traditionen weiter, die tief im sozialen Gefüge verankert sind. Dazu zählt auch die Praxis der weiblichen Beschneidung, die trotz staatlicher Verbote und harter Strafen in vielen Regionen weitergeführt wird, weil sie als kulturelle Pflicht gilt. Solche Strukturen wirken damit wie ein zweites Rechtssystem, das die Weitergabe dieser Normen absichert und staatliche Reformen in diesem Bereich nur begrenzt wirksam macht.

Der Staat begegnet diesen Stammesstrukturen nicht mit Konfrontation, sondern mit Einbindung. Präsident Abdel Fattah al-Sisi und seine Regierung suchen gezielt die Kooperation mit Stammesführern. Älteste erhalten Posten in lokalen Gremien oder sogar im Parlament, Infrastrukturprojekte werden über Clans abgewickelt, und im Gegenzug sichern sie Loyalität. Besonders im Sinai ist diese Strategie sichtbar: Dort wurden Stämme in Sicherheitsoperationen gegen islamistische Gruppen eingebunden, indem man ihnen Vorteile bei Landrechten, Arbeitsplätzen im Militär oder wirtschaftlichen Projekten gewährte. Zugleich nutzt der Staat bestehende Rivalitäten zwischen Clans, um zu verhindern, dass sie sich gegen ihn verbünden. Auf diese Weise regiert Kairo nicht gegen die Stämme, sondern durch sie. Ihre Autorität wird in die staatliche Ordnung hineingezogen und macht Gesetze und Programme überhaupt erst wirksam.

Ein sichtbares Symbol dieser staatlichen Ordnung ist die New Administrative Capital (NAC), ein neues Regierungs- und Verwaltungszentrum östlich von Kairo. Das Vorhaben wurde 2015 gestartet, um die überlastete Metropole von Bevölkerung, Verkehr und Umweltproblemen zu entlasten und staatliche Abläufe zu bündeln. Die Lage in der Wüste erleichtert zudem Sicherheit und Kontrolle. Auf rund 700 Quadratkilometern entstehen Ministerien, das Parlament, der Präsidentenpalast sowie repräsentative Bauten wie eine große Moschee, eine Kathedrale und Hochhäuser. Seit 2021 ziehen Behörden schrittweise um, 2023 tagte das Parlament erstmals dort. Im Volksmund hat sich dafür der Spitzname „neue Hauptstadt“ etabliert.

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Die „neue Hauptstadt“: New Administrative Capital

Mit diesem Verwaltungszentrum verbindet die Regierung den Anspruch, die Verwaltung effizienter und moderner zu gestalten. Für die meisten Bürger bleibt der Gang durch Ämter dennoch ein mühsamer Alltag. Lange Wartezeiten, komplizierte Abläufe und Bestechung gehören weiterhin zur Realität. Wer schnelle Ergebnisse will, muss inoffizielle Kanäle mit Schmiergeld füttern. Zwar sind digitale Dienste angekündigt, doch ihre Reichweite ist bislang begrenzt. Für viele Menschen bleibt die Verwaltung eine Quelle von Frust, die Distanz zwischen modernem Regierungszentrum und alltäglicher Wirklichkeit besonders sichtbar macht.

Die öffentliche Ordnung ist geprägt von der allgegenwärtigen Präsenz von Polizei und Militär. Sicherheitskräfte sind auf Plätzen, Märkten, Bahnhöfen und an Verkehrsknotenpunkten sichtbar. Die Strategie ist klar: Sicherheit demonstrieren und Kontrolle signalisieren. Doch dieser sichtbare Apparat löst auch Ängste aus, vor willkürlichem Vorgehen, unkontrollierten Festnahmen oder Repression.

Rechtlich existieren Freiheitsrechte – auf dem Papier. Doch im Alltag sind sie stark eingeschränkt. Kritik am Staat, der Regierung oder an Institutionen wird oft überwacht, bestraft oder unterdrückt. Reporter und Aktivisten berichten wiederholt von Übergriffen, Hausdurchsuchungen oder Prozessen unter dem Vorwurf „falscher Informationen“. Auch im digitalen Raum herrscht Kontrolle: Soziale Netzwerke sind Ziel behördlicher Interventionen, Inhalte werden gesperrt, Nutzerkonten geschlossen. Formell gibt es eine landesweit einheitliche Polizei, die dem Innenministerium untersteht und auch in entlegenen Regionen tätig ist. In den Städten tritt sie mit sichtbarer Präsenz auf, in ländlichen Gegenden ist sie ebenfalls vertreten, doch dort spielen Stammesautoritäten eine indirekte Rolle. Offiziell haben die Ältesten keine Befehlsgewalt über Polizisten, doch ihre Autorität prägt, wie Gesetze angewandt werden. In manchen Dörfern werden Konflikte lieber durch Clanstrukturen als durch staatliche Behörden geregelt, wodurch sich staatliches Recht und soziale Normen überlagern. Der Staat duldet dies teilweise, solange Loyalität gewahrt bleibt und keine offene Opposition entsteht. Damit sind die Freiheitsrechte im Kern landesweit gleich stark eingeschränkt. Die Form dieser Einschränkung unterscheidet sich jedoch: In den Städten ist sie sichtbar durch staatliche Kontrolle, im ländlichen Raum wirkt sie eher durch den sozialen Druck und die Macht der Stammesstrukturen. Für die Betroffenen bleibt das Ergebnis ähnlich, nämlich ein deutlich begrenzter Raum für individuelle Freiheit.

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Menschenrechtsgruppen kritisieren das Vorgehen der ägyptischen Polizei seit Jahren

Ein besonders sensibler Bereich ist das Verhältnis von Normen, Traditionen und Kontrolle. Frauenrechte sind gesetzlich anerkannt, doch gesellschaftliche Zwänge wirken stark. Die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM) steht dafür exemplarisch. Sie ist seit über einem Jahrzehnt verboten, doch Studien belegen, dass sie weiterhin weit verbreitet ist – oft unter Beteiligung von medizinischem Personal, in ländlichen Regionen aber ebenso durch Hebammen und Barbierinnen. Diese Praxis zeigt einmal mehr, wie kulturelle Normen stärker wirken als Gesetze. Sie ist in Stammes- und Familienstrukturen so tief verankert, dass staatliche Eingriffe nur selten den gewünschten Effekt haben.

Religion ist ein anderer Pfeiler. Der Islam prägt den Alltag der Mehrheit. Die koptisch-christliche Minderheit, etwa zehn Prozent der Bevölkerung, bildet einen festen Teil des sozialen Gefüges. Offiziell gilt Religionsfreiheit, doch der Bau von Kirchen oder die Ausübung christlicher Rituale sind oft genehmigungspflichtig. Gleichzeitig nutzt der Staat Religion als Medium politischer Stabilisierung: islamische Predigten, Schulprogramme und religiöse Medieninhalte werden überwacht, Imame reguliert, Inhalte gesteuert, um extremistische oder oppositionsnahe Tendenzen zu dämpfen.

Die Jugend stellt eine Schlüsselgruppe dar. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist unter 25 Jahre alt. In dieser Generation treffen moderne Erwartungen, globale Impulse und staatliche Restriktionen aufeinander. Viele suchen nach Perspektiven jenseits des Status quo, in Bildung, Start-ups oder Migration. Doch strukturelle Hürden, fehlende Optionen und politisches Klima schränken die Spielräume ein.

Das innere Bild Ägyptens ist damit geprägt von einer Mischung aus Kontrolle, Anpassung und kleinen Gegenräumen. Menschen navigieren durch Normen, Machtstrukturen und unbequeme Grenzen. Modernisierung und Kontrolle existieren oft Seite an Seite, und manchmal im selben Raum. Wer Ägypten verstehen will, muss nicht nur die glänzenden Fassaden sehen, sondern das, was dahinter liegt.

Ein wirtschaftlicher Kompass: Zahlen, Treiber und Finanzräume

Ägyptens Wirtschaft wächst 2025 erneut moderat, doch sie steht unter erheblichem Druck. Der Internationale Währungsfonds prognostiziert für 2025 ein Wachstum von knapp vier Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Gleichzeitig steigt die Inflation – also die durchschnittliche Preissteigerung – auf etwa 20 %. Das heißt konkret: Waren, die gestern 100 Dollar (ca. 4.800 EGP) kosteten, könnten heute fast 120 Dollar (ca. 5.760 EGP) kosten. In Städten wie Kairo ist der Preisanstieg oft etwas niedriger, doch für viele Menschen bleibt der Druck spürbar. Viele Haushalte verwenden fast ihr gesamtes Einkommen für Grundkosten – Nahrung, Transport, Energie – sodass kaum etwas übrig bleibt.

Die Staatsfinanzen sind angespannt. Ägypten strebt an, weniger auszugeben als Einnahmen zu erzielen, sofern man die Zinslast außen vor lässt. Dieser sogenannte Primärüberschuss ist auf etwa vier Prozent der Wirtschaftsleistung ausgelegt. Dennoch steigt die Schuldensumme weiter. Die externe Verschuldung liegt heute bei über 160 Mrd. Dollar (ca. 7,7 Bill. EGP), und Prognosen reichen bis zu 200 Mrd. Dollar (ca. 9,6 Bill. EGP) oder mehr. Ein erheblicher Teil des Staatshaushalts fließt allein in Zins- und Schuldentilgungszahlungen. Gleichzeitig erlitt eine wichtige Einnahmequelle – der Suezkanal – 2024 deutliche Rückgänge: Durch Störungen im Roten Meer sank der Kanalumsatz um mehrere Milliarden Dollar. Solche Schwankungen verschärfen Liquiditätsengpässe.

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Grafik: AMEPRES

Der Staat reagiert mit harten Maßnahmen: Subventionen für Energie werden reduziert, staatliche Firmenanteile verkauft, und neue Kreditlinien mit internationalen Partnern erschlossen. Diese Schritte lindern kurzfristig den Druck, verschieben allerdings viele Risiken in die Zukunft.

Ein Blick auf die Wachstumstreiber und Wirtschaftssektoren zeigt, wo Bewegung entsteht. Die Industrie – zum Beispiel Herstellung und Verarbeitung – gibt Impulse durch gesteigerte Produktion. Der Tourismus erholt sich stark: 2024 besuchten mehr als 15 Millionen Menschen Ägypten. Damit fließen dringend benötigte Devisen ins Land. Im Energiesektor wurden Preise angehoben, und neue Infrastrukturprojekte gestartet. Großprojekte – Straßen, Gewerbegebiete, Städte – werden vom Staat vorangetrieben, oft mit erheblichen Ressourcen, wodurch private Unternehmen konkurriert werden müssen. Der IWF fordert zunehmend, dass der Staat sich zurückzieht und privaten Firmen mehr Spielraum gibt.

Das Finanzzentrum des Landes ist die Börse in Kairo (Egyptian Exchange, EGX). Dort werden Aktien großer Firmen gehandelt. Der Börsenindex EGX30 liegt 2025 im Aufwärtstrend – ein Zeichen, dass Investoren trotz Unsicherheiten aktiv bleiben. Doch dieser Markt spiegelt nur einen kleinen Teil der Gesamtwirtschaft wider. Für die meisten Menschen zählt, ob sie sich das tägliche Leben leisten können.

Die Einkommen zeigen ein hartes Gefälle zu den Kosten. Das gesetzliche Mindestgehalt beträgt etwa 145 Dollar (7.000 EGP) pro Monat. Das durchschnittliche Gehalt liegt bei grob 190 Dollar (9.200 EGP) pro Monat. Die Lebenshaltungskosten in Kairo (ohne Miete) betragen pro Person rund 370 Dollar (34.970 EGP) monatlich. Für eine vierköpfige Familie summieren sie sich auf über 1.300 Dollar (122.000 EGP) im Monat.

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Grafik: AMEPRES

Dass Menschen trotzdem überleben können, liegt an verschiedenen Mechanismen. Ein Großteil der Bevölkerung arbeitet im informellen Sektor – Tätigkeiten ohne Vertrag oder soziale Absicherung, aber mit kurzfristigen Einkünften. Straßenverkauf, kleine Handwerksarbeiten, Baujobs oder Hausdienste bringen zusätzliches Geld. Viele Familien sichern ihr Überleben, indem mehrere Mitglieder parallel Einkommen erwirtschaften, oft in Teilzeit oder Gelegenheitsarbeit. Hinzu kommen Überweisungen von im Ausland lebenden Ägyptern, die jedes Jahr Milliarden Dollar in die Heimat schicken. Diese sogenannten Remittances sind in vielen Dörfern ein entscheidender Beitrag zum Überleben. Auf diese Weise gelingt es Familien, die Lücke zwischen offiziellem Gehalt und tatsächlichen Kosten wenigstens teilweise zu schließen, wenn auch oft ohne Rücklagen, Sicherheit oder Planbarkeit.

Unterm Strich wächst die ägyptische Wirtschaft, doch die Kluft zwischen offizieller Entwicklung und alltäglicher Realität bleibt groß. Das Land hält sich mit Einnahmen aus Kernsektoren über Wasser, während die Mehrheit der Bevölkerung weiterhin am Rand der Belastbarkeit lebt.

Der Suezkanal – Lebensader und Risikofaktor

Der Suezkanal ist für Ägypten weit mehr als nur eine Wasserstraße. Er verbindet das Mittelmeer mit dem Roten Meer und damit Europa mit Asien. Rund zwölf Prozent des Welthandels laufen durch diesen Kanal. Für Ägypten bedeutet das eine stetige Quelle an Devisen: Schiffe zahlen Gebühren, um die Passage zu nutzen. Diese Einnahmen bringen dem Staat jährlich normalerweise über acht Milliarden Dollar – Geld, das für den Schuldendienst, den Import von Lebensmitteln und die Stabilisierung der Währung unverzichtbar ist.

Doch seit Ende 2023 hat der Suezkanal seine Rolle als sichere Einnahmequelle eingebüßt. Angriffe der Huthi-Milizen im Roten Meer, die mit dem Krieg im Jemen und der Eskalation im Gazastreifen in Verbindung stehen, haben viele Reedereien gezwungen, ihre Schiffe umzuleiten. Statt durch den Suezkanal fahren Tanker und Containerschiffe nun oft um das Kap der Guten Hoffnung in Südafrika herum. Das kostet mehr Zeit und Geld, aber es gilt als sicherer. Für Ägypten bedeutet diese Umleitung einen Einbruch der Kanalgebühren um bis zu 50 Prozent. Monatlich fehlen dadurch mehrere Hundert Millionen Dollar.

Die Folgen für die Wirtschaft sind gravierend. Der Staat muss mit weniger Devisen auskommen, obwohl gleichzeitig hohe Auslandsschulden bedient werden müssen. Diese Lücke verschärft die Knappheit an harter Währung. Im Alltag wirkt sich das auf Preise und Versorgung aus: Ägypten importiert den größten Teil seines Weizens und viele andere Grundnahrungsmittel. Je weniger Dollar hereinkommen, desto schwieriger wird es, solche Importe zu bezahlen, und desto stärker steigt der Druck auf die Bevölkerung.

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Grafik: AMEPRES

Die Regierung versucht, gegenzusteuern. Sie verstärkt die militärische Präsenz am Roten Meer, investiert in Sicherheitsmaßnahmen und bietet Reedereien Rabatte an, damit sie trotz Risiken durch den Suez fahren. Zudem setzt sie auf internationale Diplomatie: Verhandlungen mit den USA, der EU und arabischen Partnern sollen sicherstellen, dass die Handelsroute stabilisiert wird. Dennoch bleibt das Grundproblem bestehen: Solange bewaffnete Gruppen im Jemen und im Roten Meer den Schiffsverkehr bedrohen, kann Ägypten seine wichtigste Einnahmequelle nicht zuverlässig nutzen.

Diese Lage macht auch sichtbar, wie verletzlich Ägyptens Finanzen sind. Der Suezkanal ist eine Lebensader für das Land, aber zugleich ein Risikofaktor, den Ägypten kaum selbst kontrollieren kann. Im September 2025 liegt das monatliche Einnahmenniveau noch immer deutlich unter den Rekordwerten von 2022. Zwar haben sich die Summen leicht stabilisiert, doch an eine vollständige Rückkehr zum alten Niveau ist vorerst nicht zu denken. Für ein Land mit wachsender Bevölkerung und hohen sozialen Spannungen bleibt diese Abhängigkeit ein ständiger Balanceakt.

Klimakrise im Land – die Kluft zwischen Worten und Taten

Der Klimawandel wirkt sich in Ägypten bereits deutlich aus. In der Wüste steigen die Temperaturen, Regen fällt unregelmäßiger, der Nil führt weniger Wasser, und die Küstenregionen leiden unter dem Meeresspiegelanstieg. Besonders das Nil-Delta und die Küsten am Roten Meer verlieren durch Erosion wertvolles Land, das Grundwasser wird zunehmend salzig. Die Landwirtschaft, die auf Bewässerung angewiesen ist, kann immer weniger Flächen zuverlässig bestellen und verliert Jahr für Jahr an Erträgen. Prognosen gehen davon aus, dass ohne Anpassung bis zu zehn Prozent der fruchtbaren Flächen in den Küstenregionen unbrauchbar werden. Dazu kommt der Wassermangel: Mehr Verdunstung, schwankende Pegelstände und steigende Konkurrenz zwischen Landwirtschaft, Städten und Industrie verschärfen die Lage. Auch Gesundheit und Infrastruktur sind stärker belastet als zuvor. Nach Angaben der Weltbank haben sich die Zahl der Hitzewellen seit den 1960er-Jahren mehr als verdoppelt, Sandstürme treten im Schnitt 20 % häufiger auf als vor drei Jahrzehnten, und Stromausfälle wurden seit 2020 mit durchschnittlich 120 Tagen pro Jahr dokumentiert – rund doppelt so viele wie zehn Jahre zuvor.

Ägypten hat sich in mehreren internationalen Rahmenwerken klar positioniert. 1994 trat es der UN-Klimarahmenkonvention bei und ist seither verpflichtet, regelmäßig nationale Klimaberichte einzureichen. 1999 ratifizierte es das Kyoto-Protokoll, das verbindliche CO₂-Reduktionsziele für Industrieländer setzte und für Entwicklungsländer Mechanismen wie Emissionshandel ermöglichte. 2016 unterzeichnete und ratifizierte Ägypten das Pariser Klimaabkommen, in dem es seine nationalen Verpflichtungen (NDC, Nationally Determined Contributions) formulierte. Zudem ist Ägypten Mitglied der regionalen Afrikanischen Anpassungsinitiative von 2015 und war bei der COP27 2022 Gastgeber und erneuerte dort sein Bekenntnis, bis 2030 mindestens 42 % seines Stroms aus erneuerbaren Energien zu erzeugen.

Schon in fünf Jahren soll sich diese Zielsetzung im Energiesystem niederschlagen. Für verschiedene Sektoren wurden ambitionierte Reduktionsziele vorgegeben: minus 37 % im Stromsektor, minus 7 % im Verkehr sowie minus 65 % in Bereichen wie Öl und Gas gegenüber einem Szenario ohne Klimaschutzmaßnahmen. Die Strategie der Vision 2030 benennt Nachhaltigkeit als Leitprinzip, doch der gleichzeitige Ausbau der Gasproduktion, speziell offshore, zeigt die divergente Prioritätensetzung: kurzfristige Einnahmen werden gegen langfristigen Klimaschutz abgewogen.

Nur rund 11,5 % der Stromversorgung stammen heute aus Solar, Wind und Wasserkraft. Laut Vision 2030 will die Regierung den Anteil erneuerbarer Energien bis 2030 auf 42 % steigern. Ein Zwischenziel von etwa 20 % bis Mitte der 2020er-Jahre ist vorgesehen, doch selbst dieses Tempo reicht nicht aus, um Ägyptens Beitrag zum globalen Klimaschutz glaubwürdig zu machen. Wissenschaftler des IPCC betonen, dass die Welt ihre Treibhausgasemissionen bis 2030 um etwa 45 % gegenüber 2010 senken müsste, um das 1,5-Grad-Ziel nicht zu verfehlen. Im Vergleich dazu wirken Ägyptens Schritte eher halbherzig. Parallel werden Netze modernisiert: neue Leitungen sollen Verluste senken und die Versorgung stabilisieren. Geplant sind außerdem Interkonnektoren mit Jordanien, Saudi-Arabien und dem Sudan, um regionalen Energieaustausch zu stärken.

Einige Projekte stechen hervor. Der Benban-Solarpark mit 1,65 Gigawatt zählt zu den größten Solaranlagen weltweit. 2025 wurden Vereinbarungen für ein 1-Gigawatt-Solarkraftwerk mit dem norwegischen Unternehmen Scatec und ein 900-Megawatt-Windprojekt im Golf von Suez unterzeichnet. Auch grüner Wasserstoff wird angestrebt: In den Wirtschaftszonen am Suez sind mehrere Anlagen geplant. Parallel läuft der Bau des Kernkraftwerks El-Dabaa, das ab 2028 in Betrieb gehen soll und 4.800 Megawatt liefern könnte.

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Grafik: AMEPRES

Im Verkehr liegt ein weiterer Hebel. 2022 verursachte dieser Sektor rund 17 % der Treibhausgasemissionen in Ägypten. Der Energieverbrauch im Verkehr basiert zu etwa 97 % auf Öl. Die Regierung setzt offiziell auf den Ausbau von Erdgasfahrzeugen und nennt Elektroautos als Zukunftsfeld. In der Realität existiert jedoch kaum ein Markt: Landesweit sind nur wenige tausend Elektroautos zugelassen, das entspricht rund 0,1 % des Fahrzeugbestands. Zum Vergleich: In Ländern wie Norwegen liegt die Neuzulassungsquote bei über 80 %. Ägypten bleibt weit davon entfernt, ernsthafte Anreize zu setzen. Subventionen, Ladeinfrastruktur oder Steuererleichterungen sind praktisch nicht vorhanden. Die Ankündigungen, in den nächsten Jahren Hunderttausende Elektrofahrzeuge zu produzieren, wirken angesichts der fehlenden Nachfrage und Rahmenbedingungen eher wie politische Rhetorik als wie eine realistische Transformationsstrategie. Neue U-Bahn-Linien in Kairo, Monorails und ein Hochgeschwindigkeitsnetz mit 2.000 Kilometern sollen den Individualverkehr zwar entlasten, doch der Umstieg auf nachhaltige Mobilität ist bislang kaum greifbar.

Die Umsetzung der hingeschriebenen Klimaziele bleibt mehr als fraglich: Finanzierung fehlt und politische Risiken schrecken private Investoren ab. Der gleichzeitige Ausbau fossiler Kapazitäten gefährdet eine langfristige Abhängigkeit. Wasserknappheit ist ein weiteres Problem, da manche erneuerbare Technologien zusätzlichen Wasserbedarf haben. Die Stromversorgung in ländlichen Gebieten, Netzstabilität und Batteriespeicher sind ungelöste Herausforderungen. Zudem hängt der Erfolg vieler Projekte von internationaler Unterstützung ab – ohne solide Finanzierungszusagen aus Klimafonds riskieren viele Vorhaben zu scheitern.

Menschenrechte und humanitäre Lage – ein Blick hinter die Fassade

Die humanitäre Situation in Ägypten im September 2025 lässt sich nicht auf eine Zahl oder einen Indikator reduzieren. Sie ist ein komplexes Zusammenspiel aus eingeschränkten Menschenrechten, fehlender Pressefreiheit, ungleichen Frauenrechten und einem Justizsystem, das auch heute noch auf die Todesstrafe setzt. Auf den ersten Blick erscheint das Land stabil, mit geordneten Institutionen und einer starken Führung. Doch hinter dieser Fassade finden sich Brüche, die für viele Ägypterinnen und Ägypter den Alltag bestimmen.

Internationale Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch dokumentieren regelmäßig massive Verstöße gegen die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern. Dazu gehören willkürliche Verhaftungen, Foltervorwürfe in Gefängnissen und die systematische Unterdrückung oppositioneller Stimmen. Nach Schätzungen von Menschenrechtsgruppen sitzen derzeit zwischen 60.000 und 65.000 politische Gefangene in ägyptischen Gefängnissen. Viele davon sind Mitglieder der Muslimbruderschaft, andere sind Journalisten, Anwälte, Aktivisten oder einfache Bürger, die Kritik am Staat geäußert haben.

Besonders sichtbar wird die Lage bei der Pressefreiheit. Ägypten gehört nach Angaben von Reporter ohne Grenzen seit Jahren zu den am stärksten eingeschränkten Mediensystemen der Welt. Mehr als 500 Webseiten sind blockiert, darunter Nachrichtenportale und Blogs. Journalisten riskieren Festnahmen, wenn sie abweichend von der staatlichen Linie berichten. Große Medienhäuser stehen entweder direkt unter staatlicher Kontrolle oder gehören Geschäftsleuten, die eng mit der Regierung verbunden sind. Damit ist das Spektrum unabhängiger Stimmen faktisch eliminiert.

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Journalistenproteste in Kairo: „Wir haben gleichgeschaltete Medien“

Auch bei den Frauenrechten bleibt die Lage widersprüchlich. Offiziell sind Frauen in vielen Bereichen gleichgestellt, doch im Alltag zeigt sich ein anderes Bild. Frauen sind besonders häufig von Arbeitslosigkeit betroffen, der Zugang zu Führungspositionen ist gering, und geschlechtsspezifische Gewalt bleibt weitgehend straflos. Nach aktuellen Umfragen berichten über 90 Prozent der Frauen in Ägypten von sexueller Belästigung im öffentlichen Raum. Die Gesetzeslage sieht zwar Strafen für sexuelle Gewalt vor, doch eine große Lücke bleibt bestehen: Vergewaltigung in der Ehe ist nicht strafbar, und die Anzeigequote bei Vergewaltigungen insgesamt ist extrem niedrig, weil Betroffene mit Stigmatisierung, Scham und teilweise sogar Repression rechnen müssen. Hinzu kommt, dass die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung trotz Verbots noch immer weit verbreitet ist. Schätzungen der Vereinten Nationen gehen davon aus, dass über 85 Prozent der Frauen im Alter zwischen 15 und 49 Jahren beschnitten sind – eine der höchsten Raten weltweit.

Ein weiteres Thema ist die Anwendung der Todesstrafe. Ägypten gehört zu den Ländern, die weltweit am häufigsten Hinrichtungen vollstrecken. Laut Amnesty wurden allein im Jahr 2025 bislang über 350 Todesurteile ausgesprochen und mindestens 20 Menschen hingerichtet. Die Prozesse stehen international in der Kritik, weil faire Verfahren und rechtsstaatliche Standards oft nicht eingehalten werden. Besonders bei politisch motivierten Anklagen werden Urteile häufig in Massenverfahren gefällt.

Die humanitäre Lage wird zusätzlich von wirtschaftlichen Problemen geprägt. Millionen Menschen leben unter der Armutsgrenze. Laut der Weltbank sind rund 29 Prozent der Bevölkerung offiziell arm, weitere 30 Prozent gelten als gefährdet, in die Armut abzurutschen. Internationale Hilfsorganisationen berichten, dass besonders in den ländlichen Regionen Unterernährung, fehlender Zugang zu medizinischer Versorgung und mangelhafte Bildungseinrichtungen die Situation verschärfen.

Trotz dieser Probleme präsentiert sich die ägyptische Regierung international als verlässlicher Partner, etwa bei der Bekämpfung von Migration oder im Kampf gegen Terrorismus. Kritiker werfen den westlichen Staaten jedoch vor, im Austausch für Stabilität über Menschenrechtsverletzungen hinwegzusehen. Ägyptens strategische Lage am Suezkanal und seine Rolle als Sicherheitsgarant in der Region sorgen dafür, dass internationale Kritik meist vorsichtig bleibt.

Die Essenz der humanitären Lage im Urlaubsland der Deutschen ist klar: Ägypten zeigt nach außen Ordnung und Kontrolle, doch im Inneren sind die Rechte seiner Bürger massiv eingeschränkt. Wer das Land heute betrachtet, erkennt eine Gesellschaft, die nach Sicherheit hungert, aber dafür den Preis persönlicher Freiheit zahlen muss.

Ägyptens verborgenes Leid – wo Tourismus und Beschneidung nebeneinander existieren

Weibliche Genitalverstümmelung gehört in Ägypten trotz Verboten und Aufklärung noch immer zum Alltag. Nach Schätzungen von UNICEF und WHO sind rund 85 % der Frauen zwischen 15 und 49 Jahren betroffen. Die Praxis ist seit Jahrhunderten in ländlichen Regionen und bei Stämmen verwurzelt. Mädchen werden meist im Alter zwischen sieben und 15 Jahren beschnitten. Der Eingriff wird oft von Hebammen oder älteren Frauen durchgeführt, teils auch in Kliniken, obwohl dies offiziell verboten ist. Die Eingriffe verursachen starke Schmerzen, Infektionen, Blutungen und lebenslange körperliche wie psychische Folgen. Für viele Familien gilt der Schnitt noch heute als Voraussetzung für Ehre, Heiratsfähigkeit und Reinheit.

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Grafik: AMEPRES

Noch immer sind es oftmals traditionelle Hebammen, die den Eingriff vornehmen – ohne medizinische Ausbildung, mit einfachen Klingen oder Scheren. In mehr als zwei Dritteln der Fälle finden die Eingriffe aber mittlerweile in Kliniken oder Arztpraxen statt, obwohl dies seit Jahren streng verboten ist. Die Motive sind gemischt. Manche Ärztinnen und Ärzte argumentieren, der Eingriff sei in einer Klinik zwar medizinisch sicherer als bei traditionellen Beschneiderinnen, doch gerade dadurch bleibt die Praxis gesellschaftlich verankert, weil Familien weiterhin einen leicht zugänglichen und scheinbar legitimierten Weg finden, ihre Töchter beschneiden zu lassen. Andere stehen unter sozialem Druck von Familien und Gemeindestrukturen oder handeln aus religiös-moralischer Überzeugung. Finanzielle Anreize spielen ebenfalls eine Rolle. Dass ein Teil des Gesundheitssystems damit aktiv gegen geltendes Recht verstößt, ist ein offenes Geheimnis. Die ägyptische Regierung hat weibliche Beschneidung seit 2008 offiziell verboten und die Strafen mehrfach verschärft, dennoch bleiben in der Praxis Verurteilungen äußerst selten. Ermittlungen werden meist gar nicht aufgenommen, Verfahren eingestellt und nur wenige Urteile gelangen an die Öffentlichkeit. Internationale Beobachter werfen den Behörden vor, vor allem nach außen ein Bild von Entschlossenheit zu zeigen, im Inneren aber kaum systematisch gegen die Praxis vorzugehen.

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Szene von Originalaufnahme durch KI nachgestellt (Personen verändert)

Ein Problem ist die tiefe soziale Verwurzelung. In vielen Familien entscheiden Väter und Großmütter über die Beschneidung, nicht die Mütter. Der Druck aus dem Umfeld ist hoch, da unbeschnittene Mädchen als „unrein“ gelten und kaum Chancen auf eine Ehe haben.

Die Folgen für die betroffenen Mädchen sind gravierend. Neben akuten Schmerzen kommt es häufig zu lebenslangen Narben, chronischen Infektionen und Komplikationen bei Geburten. Psychologisch berichten viele Frauen von Traumata, Angststörungen und einem tiefen Gefühl des Verlustes. Medizinisch ist längst belegt, dass FGM keinerlei Nutzen hat, sondern ausschließlich Schaden anrichtet. Dennoch wird sie vielerorts weiterhin als „notwendiger Schritt“ verteidigt, um soziale Anerkennung zu sichern.

Internationale und lokale NGOs versuchen, mit Aufklärung den Bann der Tradition zu durchbrechen. Vereine wie das „National Council for Childhood and Motherhood“ oder internationale Organisationen wie „Plan International“ und „Terre des Femmes“ schulen Hebammen, Lehrer und Eltern, um Mädchen zu schützen. Ihre Programme setzen auf direkte Gespräche, Radiosendungen oder Theaterprojekte in Dörfern. Ziel ist es, Verständnis zu schaffen, dass Beschneidung weder religiös vorgeschrieben noch medizinisch sinnvoll ist. Doch die Reichweite bleibt begrenzt, solange staatliche Institutionen diese Arbeit nicht konsequent unterstützen.

In Ägypten locken Pyramiden, Tempel und Tauchreviere jedes Jahr Millionen Besucher an. In den Dörfern entlang der Touristenströme bleiben diese Beschneidungen Alltag. Wer an Ägypten denkt, hat meist Bilder von Nilkreuzfahrten, Sharm-el-Sheikh oder den Basaren von Kairo im Kopf. Kaum jemand verbindet dieses Land mit der Tatsache, dass noch immer fast jede Frau zwischen 15 und 49 Jahren dieses unvorstellbare Leid ertragen muss. In den europäischen Medien taucht das Thema zwar immer wieder auf, doch kaum jemand bringt es mit Ägypten in Verbindung. So bleibt es hier weitgehend unsichtbar.

Ägyptens Außenpolitik verkauft Prinzipien für Devisen

Ägyptens Außenpolitik folgt dem Mantra der Stabilität. Doch hinter der Fassade steckt oft reiner Opportunismus. Im Gaza-Krieg präsentiert sich Kairo als unverzichtbarer Vermittler, verhandelt Feuerpausen und Gefangenenaustausch, hält die humanitäre Drehscheibe am Laufen – und schließt zugleich die Tür für großflächige Fluchtbewegungen. Die Begründung lautet Sicherheit im Sinai und die Angst vor einer dauerhaften Entvölkerung Gazas. In der Praxis bedeutet das: Kontrolle vor Schutz. Als Israel zeitweise die Kontrolle am Grenzstreifen ausweitete, pochte Kairo öffentlich auf rote Linien. Gleichzeitig blieben Hilfslieferungen holprig, Zuständigkeiten verschwimmen. Moralische Positionierung nach außen, harte Interessenwahrung nach innen – das ist die Konstante.

In der Region definiert sich Ägypten als sunnitische Ordnungsmacht, eng getaktet mit Saudi-Arabien und den Emiraten. Die Annäherung an die Türkei nach Jahren der Eiszeit, die Wiederbelebung der Beziehungen zu Katar und die punktuelle Gesprächsbereitschaft gegenüber dem Iran zeigen, dass Prinzipien schnell relativ werden, wenn Investitionen, Devisen und sicherheitspolitische Rückendeckung locken. Kairo sitzt an vielen Tischen zugleich, weil es sich so den Preis in allen Hauptstädten hochtreibt. Wer zahlt, bekommt Zugang. Wer nicht zahlt, bekommt Protokoll.

An den Rändern des Staates zeigt sich die Härte dieser Linie am deutlichsten. Der Krieg im Sudan drückt Hunderttausende über die Grenze. Offiziell hilft Ägypten, registriert und ordnet. Faktisch bedeutet das aber auch Selektion, restriktive Einreise und Verweis auf knappe Kapazitäten. Mit Europa verbindet Kairo die Erwartung, dass Migrationskontrolle vergütet wird – in Geld, Technik und politischer Nachsicht. Das ist nützlich für die Staatskasse, aber es verschiebt die Debatte weg von Rechten und hin zu Zahlungen. Stabilität wird zur Ware.

Ökonomisch zeigt sich dieselbe Logik. Im März 2024 schloss die Europäische Union ein sogenanntes „strategisches Partnerschaftspaket“ mit Ägypten ab. Der Umfang: rund 7,4 Milliarden Euro bis 2027, bestehend aus Krediten, Zuschüssen und Investitionsgarantien. Offiziell begründet wurde das mit wirtschaftlicher Stabilisierung, Energiewende und Migration. In der Praxis knüpft Brüssel die Gelder an Kairos Bereitschaft, Fluchtbewegungen aufzuhalten und als Pufferstaat für Europa zu agieren. Erste Tranchen sind bereits überwiesen, der Rest hängt an Reformschritten, die im Alltag kaum spürbar sind. Parallel dazu steht der spektakuläre Ras-El-Hekma-Deal an der Mittelmeerküste: Die Emirate investierten über 30 Milliarden Dollar in den Ausbau eines Tourismus- und Wirtschaftsprojekts, das Luxusanlagen, Finanzzentren und Infrastruktur vorsieht. Für Ägypten bedeutet das dringend benötigte Devisen, für Abu Dhabi exklusive Zugriffsrechte auf strategisch wertvolles Küstenland. Kritiker nennen es einen Verkauf von Zukunft gegen kurzfristige Liquidität. Auch China ist präsent, baut Straßen, Fabriken und Eisenbahnlinien – meist kreditfinanziert und mit chinesischen Firmen als Ausführenden. Die Abhängigkeit wächst, weil Rückzahlungen in harter Währung fällig werden.

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Ras-El-Hekma-Deal: 30 Milliarden sind unterschrieben

Mit den USA bleibt das sicherheitspolitische Fundament eng verknüpft. Den Kern bildet bis heute das Bündel der Camp-David-Abkommen von 1978. Unter Vermittlung von Jimmy Carter unterzeichneten Anwar al-Sadat und Menachem Begin ein Abkommen, das zwei Hauptziele hatte: Erstens den Frieden zwischen Israel und Ägypten zu sichern und zweitens einen Rahmen für eine umfassendere Lösung des Nahostkonflikts zu schaffen. Im Kern regelten die Abkommen den israelischen Rückzug aus der Sinai-Halbinsel sowie die gegenseitige Anerkennung beider Staaten. Als Gegenleistung verpflichteten sich die USA, Ägypten dauerhaft wirtschaftliche und militärische Unterstützung zu gewähren. Diese Linie gilt bis heute: Rund 1,3 Milliarden Dollar fließen jährlich aus Washington nach Kairo, vor allem als Militärhilfe.
Damit werden amerikanische Waffensysteme, Ersatzteile und Ausbildungen finanziert. Gemeinsame Manöver wie „Bright Star“, die regelmäßig in Ägypten stattfinden, binden die Armee fest an westliche Standards. Washington betont offiziell immer wieder, dass ein Teil der Gelder an Menschenrechtsauflagen gebunden sei – etwa die Freilassung politischer Gefangener oder ein Ende willkürlicher Inhaftierungen. Doch diese Vorgaben sind dehnbar und wurden mehrfach teilweise ausgesetzt, wenn strategische Interessen überwogen.
Zu diesen Interessen zählt, dass Ägypten seine Rolle als Sicherer der Wasserwege im östlichen Mittelmeer und am Suezkanal wahrnimmt. Angriffe im Roten Meer haben die Bedeutung zusätzlich erhöht. Von Kairo wird erwartet, dass es zusammen mit Partnern Piraterie, Schmuggel und den Transit militärischer Güter kontrolliert.
Auch im Anti-Terror-Kampf im Sinai liefern die USA Ausrüstung und Aufklärung, während Kairo im Gegenzug militärische Operationen durchführt. Hinzu kommt die Rolle gegenüber Gaza: Geheimdienstkanäle laufen über Kairo, insbesondere für Gespräche mit der Hamas. Washington erwartet, dass Ägypten zugleich Feuerpausen vermittelt und Grenzen kontrolliert, um Waffenlieferungen zu unterbinden.

Russland wiederum bleibt Partner im zivilen wie militärischen Bereich: Das laufende Großprojekt des Kernkraftwerks El-Dabaa wird mit russischer Technik und Milliardenkrediten gebaut. Parallel sichert Kairo Getreideimporte und Flugverkehrskooperationen. Ägyptens Linie ist klar: genügend Nähe zu beiden Großmächten, um Projekte und Hilfen zu sichern, aber genug Flexibilität, um sich nicht einseitig festlegen zu müssen.

Die Krise im Roten Meer hat die Wirtschaftsadern des Staates direkt getroffen. Angriffe und Risiken führten zu Routenwechseln, Einnahmen aus dem Suezkanal gingen spürbar zurück. Kairo forderte Sicherheit, hielt sich militärisch aber bewusst zurück und nutzte die Lage, um internationale Unterstützung zu mobilisieren. Auch hier ist die Linie nüchtern: nicht eskalieren, nicht exponieren, aber politisch und finanziell profitieren. Wer den Engpass kontrolliert, verkauft Risikoabsicherung – und rechnet sie im nächsten Hilfspaket gegen.

Entlang des Nils bleibt der Staudamm GERD der strategische Dauerstreit. Ägypten verlangt ein verbindliches Abkommen, das Niedrigwasserphasen absichert. Äthiopien will flexiblen Betrieb für seine Energieziele. Weil Kairo militärisch keine tragfähige Option hat, verlässt es sich auf Diplomatie, Weltbank-Formeln und afrikanische Foren – und auf nationale Mobilisierung. Innenpolitisch dient der Damm als Klammer für Loyalität und als Begründung für teure Entsalzungs- und Umleitungsprojekte. Substanzielle Wasserreformen, etwa Effizienz in Landwirtschaft und Städten, laufen der Rhetorik hinterher.

Gegenüber Israel bleibt Kairo bei kalter Kooperation. Der Friedensvertrag steht, Geheimdienstkanäle funktionieren, Energie- und Sicherheitsfragen werden pragmatisch behandelt. Sobald Israels Schritte am Grenzstreifen die ägyptischen roten Linien berühren, folgt der öffentliche Widerspruch – ohne die Kanäle zu schließen. Diese Doppelspur ist kalkuliert. Sie erlaubt es, in Washington als verlässlicher Partner zu gelten und in der arabischen Öffentlichkeit als Verteidiger palästinensischer Anliegen aufzutreten.

Global versteht sich Ägypten als Machtmittler, der Preise setzt, indem er sich anbietet – als Puffer, als Vermittler, als Gatekeeper. Das verschafft Spielräume und kurzfristige Zuflüsse. Es kostet aber Glaubwürdigkeit, sobald Partner merken, dass jedes Bekenntnis verhandelbar ist. Wo andere Koalitionen bilden, bündelt Kairo Optionen. Das hält Wege offen, aber es lässt Ziele verschwimmen. Am Ende dominieren drei Konstanten: Sicherheit vor Rechten, Liquidität vor Reform, Einfluss vor Prinzipien.

Das kommende Jahr – Symbole stark, Strukturen schwach

Die großen Stellschrauben sind bekannt. Die Frage ist, ob sie gedreht werden. Ägypten braucht planbare Devisen, verlässliche Energie, geringere Inflation, bessere Verwaltung und Vertrauen in Recht und Institutionen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass das Land an Symptomen arbeitet, nicht an Ursachen. Die Regierung wird neue Deals suchen, Zinsen justieren, Projekte verkünden und Kontrollen ausweiten. Ohne strukturelle Änderungen bei Staatsunternehmen, Militärbeteiligungen und Wettbewerb bleibt Wachstum fragil und zu teuer erkauft.

Finanziell entscheidet die Lage des Suezkanal-Korridors mit. Bleiben Risiken im Roten Meer hoch oder frachtintensiv, bleiben Einnahmen schwankend. Das zwingt zu weiteren Notbehelfen: Vermögensverkäufe, Vorkassenrabatte, bilaterale Kredite. Die nächste Bewährungsprobe liegt im Zusammenspiel mit dem IMF-Programm. Zielmarken zu Primärüberschüssen, Wechselkurs-Flexibilität und Privatisierungen sind erreichbar, aber politisch heikel. Jede Verzögerung erhöht den Druck auf das ägyptische Pfund und damit auf Preise und soziale Ruhe.

Im Energiesystem wird es wenig Puffer geben. Die Gas-förderung stagniert, der Inlandskonsum bleibt hoch, die Sommer werden heißer. Kommen Pipelineflüsse aus Israel ins Stocken oder verteuern sich LNG-Importe, drohen neue Stromausfälle. Die Ausbauziele für Erneuerbare sind ambitioniert, die Umsetzung aber kapital- und netzintensiv. Ohne glaubhafte Priorisierung von Netzerneuerung, Speicherpiloten und Investorenrechten wird die Lücke zwischen Ankündigung und Realität sichtbar bleiben.

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Man hat eigene Stromausfälle zu kompensieren, will aber ab 2029 Strom in den Irak exportieren

Die soziale Lage entscheidet sich im Alltag. Löhne hinken hinter Preisen her, die Verwaltung ist formal modernisiert, funktioniert aber für viele nur mit Geduld oder Zusatzkosten. Bessere Daten, transparente Tarife, digital belastbare Verfahren und ein enger Fokus auf Grundversorgung würden spürbar helfen. Wahrscheinlicher ist ein Kurs, der mit punktuellen Entlastungen und Disziplin an der Oberfläche arbeitet, ohne die Mechanik darunter zu verändern.

Außenpolitisch setzt Kairo weiter auf Risikohandel. Im Gaza-Konflikt bleibt die Rolle als Türöffner wertvoll, im Gegenzug erwartet man Spielräume und Geld. Die Marinepräsenz wächst nicht proportional zur Verantwortung, solange Partner Sicherheit mitfinanzieren. Das Großprojekt Ras El Hekma wird zur Bewährungsprobe: Kommen Bau, Infrastruktur und Nachfrage planmäßig, entsteht ein Magnet für Kapital. Rutschen Zeitplan und Governance ab, wird es zum Sinnbild für schnelles Geld ohne nachhaltigen Effekt. An der Oberen Nilfront bleibt der GERD das strategische Dauerthema. Ohne belastbares Abkommen muss Ägypten intern Wasser sparen, Leckagen schließen, Landwirtschaft modernisieren und Städte effizienter machen. Je später begonnen wird, desto teurer wird jeder Kubikmeter.

Menschenrechtlich ist wenig Dynamik zu erwarten. Einzelne Begnadigungen bleiben möglich, breite Öffnungen kaum. Pressefreiheit und Zivilgesellschaft werden verwaltet, nicht entfesselt. Bei der weiblichen Genitalverstümmelung dürfte die Kluft zwischen Strafdrohung und Praxis fortbestehen, solange Aufklärung und Anreizsysteme nicht systemisch skaliert werden und solange lokale Autoritäten nicht konsequent eingebunden sind. Migration bleibt politisches Tauschgut: Hilfe gegen Kontrolle.

Das kommende Jahr wird damit ein Stresstest auf Zeit. Er fällt besser aus, wenn Einnahmen diverser werden, Energie zuverlässiger, Wasserpolitik handwerklicher und Recht berechenbarer. Er fällt schlechter aus, wenn die alte Logik dominiert: schnelle Gelder, harte Symbolik, weiche Umsetzung. Der Handlungsspielraum ist da. Er verlangt Prioritäten, nicht Parolen.

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Clara saß spät am Abend auf dem Deck des kleinen Nilboots. Das Wasser lag schwarz und glatt, und vom Ufer her zogen einzelne Lichter über die Oberfläche. Nur die Strömung murmelte. Ein feuchter Geruch von Algen und Fluss trug der Wind herüber, schwer und erdig, mit einem Hauch von Fäulnis, wie er nur am Nil zu finden war. Von weitem drang das Schlagen von Metall auf Metall herüber, vielleicht aus einer Werkstatt am Ufer. Zwischen den dunklen Silhouetten der Palmen glommen einzelne Lichter aus den Häusern, und Clara hatte das Gefühl, dass das Land mit jedem Meter schwerer auf ihren Gedanken lastete.

Am Nachmittag war sie noch im Bus gesessen, Schulter an Schulter mit Shaimaa. Sie erinnerte sich an ihre Stimme, an das leise, fast beiläufige Geständnis, dass ihre kleine Cousine „bald dran“ sei. Dieser Satz ließ sie seitdem nicht los. Er war mehr als eine Erinnerung, er war ein Stachel, der sie zwang, die Bilder des Landes anders zu betrachten. Zwischen Touristenströmen und Reiseführern lag eine Wahrheit, die kaum jemand sehen wollte. Welche Hoffnung auf die Zukunft blieibt wenn selbst die Mädchen von heute noch immer demselben Schicksal entgegengehen wie ihre Mütter und Großmütter?

Clara blätterte eine Seite um und schrieb Shaimaas Worte noch einmal auf. „Es ist immer so gewesen.“ Daneben setzte sie ein Fragezeichen. Vor ihrem inneren Auge tauchten die Gesichter der Mädchen auf, die nie gefragt werden und deren Leben irgendwie schon entschieden ist, bevor es richtig beginnt.

Das Schiff löste sich langsam vom Ufer, als die Motoren spürbar an Kraft gewannen und die Dunkelheit auf dem Wasser vibrierte. Clara klappte das Heft zu und hielt es fest. „Es ist immer so gewesen“, stand dort, darunter ein Fragezeichen. Sie nahm sich vor Antworten zu finden – auf Fragen, die sie sich bisher nie gestellt hatte.


Quellenliste mit Links
  • Amepres Lokaljournalisten-Netzwerk Kairo/Nairobi/Jerusalem
Einleitung / Gesellschaft & Beschneidung

UNICEF Data – Female Genital Mutilation (FGM) Statistics
https://data.unicef.org/topic/child-protection/female-genital-mutilation/
UNICEF – „FGM in Egypt: Recent Trends and Projections“ (Brochure 2020)
https://data.unicef.org/wp-content/uploads/2020/02/FGM-Brochure-Recent-Trends-Projections-Egypt-English_2020.pdf
UNFPA – Egypt FGM Country Snapshot
https://www.unfpa.org/resources/egypt-fgm-country-snapshot
FGM/C Research Initiative – Country Data Egypt
https://www.fgmcri.org/country/egypt/
UN Women – „Families report FGM in Egypt and advocacy intensifies“
https://www.unwomen.org/en/news/stories/2021/2/feature–families-report-fgm-in-egypt-and-advocacy-intensifies
ScienceDirect – „Prevalence and risk factors of female genital mutilation“
https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2213398420300506

Politik / Macht und Struktur

Wikipedia – „Foreign relations of Egypt“
https://en.wikipedia.org/wiki/Foreign_relations_of_Egypt
Congressional Research Service (CRS) – „Egypt: Background and U.S. Relations“
https://www.congress.gov/crs-product/RL33003

Wirtschaft / Finanzen

Washington Institute – „Egypt’s Economy Amidst Regional Conflicts“
https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/egypts-economy-amidst-regional-conflicts
Wikipedia – „Egypt Vision 2030“
https://en.wikipedia.org/wiki/Egypt_Vision_2030
arXiv – „Probabilistic Scenario-Based Assessment of National Food Security Risks“
https://arxiv.org/abs/2312.04428

Außenpolitik

Real Instituto Elcano – „Egyptian Diplomacy and International Relations“
https://www.realinstitutoelcano.org/en/work-document/egyptian-diplomacy-and-international-relations-wp/
Europäisches Parlament – „Egypt’s foreign policy within a challenging regional context“
https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/BRIE/2021/698062/EPRS_BRI%282021%29698062_EN.pdf
Middle East Council on Global Affairs – „Egyptian Foreign Policy During the Sisi Era“
https://mecouncil.org/publication/egyptian-foreign-policy-during-the-sisi-era/
Al-Ahram Weekly – „Egypt’s foreign policy in a changing world“
https://english.ahram.org.eg/NewsContentP/50/541049/AlAhram-Weekly/Egypt%E2%80%99s-foreign-policy-in-a-changing-world.aspx
The Cairo Review – „Egypt’s Shifting Foreign Policy Priorities“
https://www.thecairoreview.com/essays/egypts-shifting-foreign-policy-priorities/
CIRSD Horizons – „Egypt’s Foreign Policy in Changing Times“
https://www.cirsd.org/en/horizons/horizons-spring-2015–issue-no3/egypts-foreign-policy-in-changing-times

Menschenrechte / Humanitäre Lage

Amnesty International – Länderberichte Ägypten
https://www.amnesty.org/en/location/middle-east-and-north-africa/egypt/
Human Rights Watch – Egypt Country Page
https://www.hrw.org/middle-east/n-africa/egypt
Reporter ohne Grenzen – Pressefreiheit in Ägypten
https://rsf.org/en/country/egypt

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