Libanon im September 2023: Hisbollah, Iran, Israel und die Achsen, die Beirut bewegen
Lizenzartikel von Jürgen Dirrigl – Titelbild und alle nicht gekennzeichneten Bilder im Artikel : AMEPRES
Er sitzt in einer staubigen Baracke nahe der syrischen Grenze. Der Beton ist rau, der Abend legt sich warm über die Hügel, und die Straße hinüber nach Talkalakh flimmert in der Hitze. Karim ist Anfang vierzig. Seit seiner Jugend trägt er die Uniform der Hisbollah. An diesem 26. September 2025 hört er das leise Klicken des Funkgeräts, doch sein Blick verliert sich in der Ferne.
Im Frühjahr konnte seine Familie endlich in eine neue Wohnung ziehen. Die alte, in Achrafieh, war am 4. August 2020 zerstört worden, als im Hafen von Beirut 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat explodierten. Damals waren die Fenster zerborsten, die Mauern eingestürzt, der Boden voller Splitter. Es dauerte Jahre, bis die Räume wieder bewohnbar waren. An heißen Tagen meint Karim noch immer, den stechenden Geruch von Ammoniak zu riechen, so als wäre die Katastrophe erst gestern gewesen.
Karim folgt mit den Augen dem Lauf der Straße, die durch seinen Grenzposten hinüber nach Syrien führt. Er denkt daran, wie sich die politische Ordnung dort verschoben hat, wie seit 2023 wieder Botschaften geöffnet wurden und Nachbarstaaten ihre Beziehungen erneuerten. Er denkt an Gaza, an die Bilder der Luftangriffe, an die stillen Beerdigungen. In seinem Umfeld reden sie über Recht und Unrecht, über Verteidigung und Vergeltung. Er selbst ist müde.
Seit Wochen kehrt in ihm derselbe Gedanke zurück. Er fragt sich, ob es Zeit ist, die Waffe aus der Hand zu legen und die Organisation zu verlassen, die sein Leben geprägt hat. Ein Ausstieg aus der Hisbollah ist gefährlich. Wer geht, wird misstrauisch betrachtet, oft als Verräter gebrandmarkt. Verträge gibt es nicht, aber Loyalität und Geheimhaltung sind ein unausgesprochener Schwur. Viele, die einmal Teil sind, bleiben es für immer. Karim weiß das. Und dennoch wächst in ihm der Wunsch, auszubrechen.
Er spricht nicht darüber, nicht einmal mit seiner Frau. Im Stillen spürt er nur, dass er müde geworden ist. Der Grund, weshalb er jeden Tag an der Grenze sitzt und die Waffe in der Hand hält, ist mit den Jahren verschwommen. Er kann ihn nicht mehr klar benennen. In der Nacht stellt er sich vor, wie er eines Morgens den Schlüssel ins Schloss dreht, den Funk nicht mehr hört und nur die Stimmen seiner Kinder beim Frühstück.
Ein Land im Zick-Zack-Kurs
In Beirut wie auch in Tripoli und Tyros ist der Alltag ein Balanceakt: Strom gibt es an vielen Tagen acht Stunden, dann wieder nur sechs. Wasserflaschen stehen griffbereit, weil die Leitungen unzuverlässig laufen. An den Wechselstuben ist der Kurs des libanesischen Pfund das Gesprächsthema, seit Wochen pendelt er stabil um 89.700 zum Dollar. Die Inflation ist gefallen, zuletzt auf 14 Prozent, doch die Preise bleiben für viele unerschwinglich. Ein Kilo Reis kostet heute dreimal so viel wie 2019.
Politisch wirkt das Land geordneter als noch vor einem Jahr: Mit Joseph Aoun als Präsident und Nawaf Salam als Premierminister gibt es seit dem Winter wieder funktionierende Institutionen. Das Kabinett hat sich Reformen auf die Fahnen geschrieben, doch Widerstände im Parlament bleiben groß. Die Hisbollah, geschwächt durch den Tod ihrer langjährigen Führung, hält militärische Macht und politisches Gewicht, muss sich aber stärker rechtfertigen als früher. Außenpolitisch sucht Libanon Nähe zu Saudi-Arabien, während gleichzeitig die Südgrenze zu Israel angespannt bleibt.

Südlich des Litani ist die Waffenruhe brüchig. Drohnenangriffe, Luftschläge und Zwischenfälle mit der UN-Truppe UNIFIL prägen den Sommer. Am 28. August verlängerte der UN-Sicherheitsrat das Mandat der Blauhelme noch einmal, bis Ende 2026. Doch danach soll ein neues Modell entstehen, weil die Resolution 1701 keine Basis mehr für dauerhafte Ruhe bietet. Ein größerer Zwischenfall könnte die fragile Balance jederzeit zerstören.
Die Wirtschaft schwankt zwischen zarten Fortschritten und alten Wunden. Internationale Gelder fließen wieder, unter anderem über die Weltbank und den IWF. Das neue Bankgeheimnisgesetz vom April war ein Schritt, ebenso die Verträge über Solarstrom vom September. Doch das Vertrauen der Bevölkerung ist niedrig. Sparer haben noch immer keinen Zugang zu ihren Einlagen. Der IWF forderte vergangene Woche ein Gesetz zur Bankenabwicklung und ein striktes Budget 2026.
Die Gesellschaft steht weiter unter Druck. Rund 720.000 syrische Geflüchtete sind registriert, die Regierung spricht von mehr als einer Million. Seit Juli laufen die ersten Rückführungen unter UN-Begleitung. Gemeinden im Norden und Osten fordern Entlastung, Hilfswerke warnen vor Zwang und Unsicherheit. Die Stimmung schwankt zwischen Solidarität und Überforderung.
Die Wunde der Hafenexplosion von Beirut 2020 ist noch sichtbar. Viele Häuser in Gemmayzeh oder Mar Mikhael wurden restauriert, das Sursock-Museum öffnete 2023 wieder. Doch in Karantina stehen noch Ruinen. Eigentumsfragen sind ungeklärt, Versicherungen zahlten nur teilweise. Ein Londoner Gericht sprach 2023 erstmals Entschädigungen zu, Amnesty hielt im August 2023 fest, dass „absolut niemand zur Verantwortung gezogen worden ist“. Psychische Folgen sind allgegenwärtig: Studien belegen anhaltende Traumata, NGOs berichten von steigenden Suizidzahlen.
So zeigt sich im September 2025 ein Land zwischen Stabilisierung und Fragilität. Institutionen funktionieren wieder, Reformen sind auf dem Tisch, internationale Partner signalisieren Unterstützung. Gleichzeitig bleibt die Südgrenze ein Pulverfass, die Bankenkrise ungelöst und die soziale Lage angespannt. Das Gleichgewicht ist da – doch es ruht auf dünnem Fundament. Schauen wir genauer hin.
Hisbollah, Präsident, Premier: Die Kräfte im Inneren
Libanon ist eine parlamentarische Republik mit einem besonderen System, das seit dem Taif-Abkommen von 1989 auf Konfessionalismus basiert. Die wichtigsten Ämter sind fest nach Religionszugehörigkeit verteilt: Der Präsident ist stets Christ maronitischer Konfession, der Premierminister sunnitischer Muslim, der Parlamentspräsident schiitischer Muslim. Auch im Parlament selbst teilen sich Christen und Muslime die Sitze, fein abgestuft nach Konfessionen. Dieses Modell soll Machtbalance sichern, zwingt die Politik aber immer wieder in komplizierte Koalitionen und Kompromisse.

Seit Januar 2025 hat das Land erstmals seit Jahren wieder einen Präsidenten. Mit Joseph Aoun, dem ehemaligen Armeechef, steht nun ein Mann an der Spitze, der in der Bevölkerung für Ordnung und Neutralität steht. Aoun trat als unabhängiger Kandidat an, wurde aber von mehreren christlichen Parteien und auch von der Hisbollah unterstützt. Seine Wahl war das Ergebnis langer Verhandlungen, in denen die großen Blöcke – von den christlichen „Forces Libanaises“ bis zu den schiitischen Parteien – einen Kandidaten suchten, der über den Fraktionen steht. Aoun gilt als Figur, die weder dem alten Klientelismus noch den radikaleren Kräften eindeutig zuzurechnen ist.
An seiner Seite regiert seit Februar Nawaf Salam, ein Jurist mit internationalem Profil. Er wurde von sunnitischen Parteien getragen, gilt aber als reformorientiert und säkular. Salam führt ein Kabinett aus 24 Ministern, das Ende Februar das Vertrauen des Parlaments erhielt. Die Regierung kündigte an, die Bankenkrise zu lösen, die Stromversorgung zu stabilisieren und die Grenze im Süden zu sichern. Doch im politischen Alltag erweist sich jeder Schritt als mühsam, da die konfessionelle Ordnung jede Entscheidung von Koalitionen und Ausgleich abhängig macht.
In dieser Struktur bleibt die Hisbollah ein entscheidender Machtfaktor. Politisch ist sie Teil der Regierung und im Parlament vertreten, militärisch bleibt sie unabhängig. Dieses Doppelwesen – Partei und Miliz zugleich – prägt das Land seit Jahrzehnten. Ihr politischer Arm stellt Minister, organisiert soziale Dienste, Schulen und Gesundheitszentren, besonders im Süden und in den Beiruter Vororten wie Dahieh. Ihr militärischer Arm verfügt über eigene Kommandostrukturen, Ausbildungslager und Waffenarsenale, die in Teilen stärker sind als die der nationalen Armee. International gilt die Organisation in vielen Staaten als Terrororganisation, im Inland sehen viele Schiiten sie als Schutzmacht.
Die Hisbollah zahlt Gehälter an Kämpfer und deren Familien, oft höher als staatliche Beamtengehälter, und sichert so Loyalität. Doch sie steht stärker unter Druck als früher. Im Parlament fordern selbst frühere Partner mehr Mitsprache. Der Tod von Hassan Nasrallah 2024 und der Machtwechsel zu Hashem Safieddine haben Spuren hinterlassen und die politische Balance verschoben.
Korruption bleibt ein zentrales Thema. Internationale Indizes ordnen Libanon im unteren Drittel der Staaten ein. Transparency International setzte das Land zuletzt auf Rang 154 von 180. Schmiergelder sind Teil des Alltags, vom Baugewerbe bis zur Polizei. Auch deshalb drängen internationale Partner wie der IWF auf Reformen, die mehr Transparenz schaffen sollen.
Die Arbeitsmarktlage ist prekär. Offiziell liegen die Zahlen bei etwa 30 Prozent Arbeitslosigkeit, bei Jugendlichen sogar höher. Viele, die Arbeit haben, verdienen Löhne, die von der Inflation ausgehöhlt sind. Der Mindestlohn liegt umgerechnet bei rund 90 Dollar im Monat und reicht nicht für ein Leben in den Städten. Der informelle Sektor wächst, Taxi- und Lieferdienste beschäftigen Tausende, die zuvor im Bankwesen oder in der Verwaltung tätig waren. Gut ausgebildete Fachkräfte verlassen das Land weiter in großer Zahl, vor allem nach Kanada, Deutschland und in die Golfstaaten.
Dennoch gibt es kleine Fortschritte. Seit dem Frühjahr läuft eine digitale Erfassung von Beamtenstellen, um „Geisterangestellte“ zu identifizieren. Das Finanzministerium testet elektronische Steuererklärungen. Viele sehen darin Zeichen, dass die neue Regierung zumindest versucht, den Staat wieder handlungsfähiger zu machen. Doch die Bevölkerung urteilt nüchterner. Ein Händler in Bourj Hammoud sagte im August: „Wir hören von Reformen seit Jahren. Aber wenn der Strom ausfällt, hilft mir keine Rede im Parlament.“
Im Inneren bleibt Libanon also ein Land, das nach einem neuen Gleichgewicht sucht. Präsident und Premier verkörpern einen Versuch, Institutionen zu stabilisieren. Doch die alte Last aus Patronage, wirtschaftlicher Krise und einer dominanten Hisbollah bestimmt weiter den politischen Alltag.
Ein halbes BIP vor der Schuldenlast: die fragile Ökonomie des Libanon
Die Wirtschaft des Libanon bleibt im Herbst 2025 fragil. Seit der Finanzkrise von 2019, als Banken den Zugang zu Ersparnissen blockierten und das Pfund ins Bodenlose fiel, steckt das Land in einer der schwersten Wirtschaftskrisen seiner Geschichte. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich seit 2018 nahezu halbiert. Offiziell beziffert die Weltbank die jährliche Wirtschaftsleistung heute auf rund 25 Milliarden Dollar, nach mehr als 50 Milliarden vor der Krise. Die Gründe liegen in einem massiven Einbruch der Bankeinlagen, dem Zusammenbruch des Finanzsektors, jahrelangem Kapitalabfluss sowie einer Schwäche der wichtigsten Branchen – Bau, Tourismus und Handel. Viele Unternehmen mussten schließen, Auslandsinvestitionen blieben aus, und Millionen Libanesen, die früher im Land konsumierten, leben inzwischen im Ausland.

Trotz dieses Einbruchs hat sich die Inflation zuletzt abgeschwächt. Das wirkt auf den ersten Blick widersprüchlich. Der Grund liegt darin, dass der drastische Absturz bereits hinter dem Land liegt: Die Preise hatten sich in den Jahren 2020 bis 2023 vervielfacht, viele Menschen verloren ihre Kaufkraft, Unternehmen schlossen, der Konsum brach ein. Heute steigt das Preisniveau langsamer, weil ein großer Teil dieser Teuerung schon geschehen ist und die Nachfrage niedrig bleibt. Zusätzlich hat die Stabilisierung des Pfund bei rund 89.700 pro Dollar die Währung berechenbarer gemacht, während gleichzeitig internationale Hilfen und Dollarüberweisungen aus der Diaspora etwas Liquidität in den Markt gebracht haben. Im August 2025 lag die Inflation bei 14,2 Prozent im Jahresvergleich – weit weniger als die dreistelligen Werte von 2022. Der libanesische Pfund wirkt damit stabiler als in den Krisenjahren, auch wenn er für die Bevölkerung praktisch wertlos bleibt.

Der Arbeitsmarkt zeigt ein düsteres Bild. Offiziell liegt die Arbeitslosigkeit bei knapp 30 Prozent, bei Jugendlichen deutlich darüber. Gut ausgebildete Fachkräfte verlassen das Land in Scharen, besonders Ärztinnen, Ingenieure und IT-Fachleute. Wer bleibt, arbeitet oft im informellen Sektor – Taxi-Apps, Lieferdienste oder Aushilfsjobs ersetzen feste Anstellungen. Der Mindestlohn beträgt derzeit umgerechnet rund 90 Dollar im Monat und reicht kaum für Miete und Grundnahrungsmittel.

Auch Exporte und Importe spiegeln die Schieflage. Die Wirtschaft ist stark importabhängig, von Weizen über Medikamente bis zu Treibstoff. Die Handelsbilanz weist seit Jahren ein Defizit auf. Exporte beschränken sich vor allem auf Agrarprodukte, Metalle und Edelsteine. Vor der Krise machten Überweisungen von im Ausland lebenden Libanesen rund 20 Prozent des BIP aus – sie sind bis heute eine der wichtigsten Devisenquellen.
Die Staatsfinanzen sind nicht stabilisiert. Der Schuldenstand liegt bei über 280 Prozent des BIP, einer der höchsten Werte weltweit. Der Staat bedient seine Auslandsschulden seit 2020 nicht mehr, Neuverhandlungen mit Gläubigern ziehen sich hin. Das Budget für 2026, das im September vorbereitet wurde, sieht eine Ausweitung der Steuerbasis vor, etwa durch digitale Erfassung von Einnahmen. Doch internationale Partner wie der IWF warnen, dass ohne ein Gesetz zur Bankenabwicklung Vertrauen kaum zurückkehrt. Der Finanzminister Yassin Jaber brachte es im April 2025 auf den Punkt: „Das ist ganz klar, das ist, wie man sagt, der Elefant im Raum.“
Die Landwirtschaft im Libanon konzentriert sich vor allem auf das fruchtbare Bekaa-Tal, wo Weizen, Gerste, Obst, Trauben und Kartoffeln angebaut werden. Auch Oliven und Zitrusfrüchte sind wichtige Kulturen, die teils exportiert werden, etwa nach Syrien, in die Golfstaaten oder nach Europa. Ein großer Teil der Ernte wird jedoch im Inland verbraucht, da die Nachfrage hoch ist und Libanon trotz eigener Produktion noch immer große Mengen an Grundnahrungsmitteln wie Getreide und Zucker importieren muss. Die Erträge hängen stark von Regenfällen und künstlicher Bewässerung ab, was sie anfällig für Dürre macht. Während auf dem Land viele Familienbetriebe ihre Felder traditionell bewirtschaften, zeigt sich in den Städten ein anderes Bild: Dort prägen Importe aus der Türkei, Syrien oder Europa die Märkte, und urbane Haushalte sind vollständig auf den Einkauf angewiesen. So entsteht eine deutliche Kluft – Bauern im Bekaa bieten ihre Ernte direkt auf lokalen Märkten an, während Familien in Beirut oder Tripoli vielfach höhere Preise für dieselben Produkte zahlen.

Im Alltag bleibt die wirtschaftliche Lage für die Bevölkerung hart. Viele Familien leben von Dollarüberweisungen aus dem Ausland, andere von Bargeldhilfen internationaler Organisationen. Das Vertrauen in Banken und Institutionen ist tief erschüttert.
Libanon steht damit im Jahr 2025 an einem Scheideweg. Das Land hat eine Phase der Hyperinflation hinter sich gelassen und erste Schritte zur Stabilisierung unternommen. Doch hohe Schulden, Massenarbeitslosigkeit und eine blockierte Bankenkrise halten die Wirtschaft in einem Zustand, der weder Kollaps noch Erholung eindeutig erkennen lässt.
Klimaziele: Anspruch und Realität im Libanon
Offiziell hat sich Libanon zu den internationalen Klimazielen bekannt. Im Rahmen des Pariser Abkommens reichte das Land zuletzt 2021 seine aktualisierten national festgelegten Beiträge (NDC) bei den Vereinten Nationen ein. Darin verpflichtete sich Beirut, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 20 Prozent gegenüber dem „Business-as-usual“-Szenario zu senken, bei internationaler Unterstützung sogar um 31 Prozent. Außerdem versprach die Regierung, bis 2030 rund 18 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien zu decken. Diese Zahlen klingen ambitioniert, doch der Realitätscheck fällt ernüchternd aus.
Denn in der Praxis steht das Land vor massiven Hindernissen. Der staatliche Energieversorger Electricité du Liban (EDL) produziert weiterhin überwiegend Strom aus Diesel- und Schwerölkraftwerken. Der Ausfall des nationalen Netzes zwingt Haushalte und Betriebe seit Jahren, auf private Generatoren zurückzugreifen – die oft mit teurem Diesel betrieben werden und enorme Schadstoffmengen ausstoßen. Eine umfassende Elektrifizierung im Sinne klimafreundlicher Technologien ist kaum finanzierbar, solange das Finanzsystem blockiert ist und Investoren abgeschreckt bleiben.

Trotzdem gibt es Bewegung im Bereich Solarenergie. Private Initiativen und kleinere Firmen haben in den letzten Jahren Tausende Photovoltaikanlagen auf Dächern und Feldern installiert. Die Regierung schloss im September 2025 Verträge über 45 Megawatt zusätzlicher Kapazität. Schätzungen von Energieexperten zufolge deckt Solarstrom heute bereits bis zu 15 Prozent des Bedarfs, vor allem in den Regionen, wo private Haushalte und Unternehmen selbst investieren. Auch internationale Organisationen wie die Weltbank und die EU fördern Pilotprojekte für erneuerbare Energien, etwa Off-Grid-Solaranlagen in ländlichen Gebieten.
Windkraft spielt hingegen kaum eine Rolle. Ein geplantes Windparkprojekt in Akkar kam nie über die Planungsphase hinaus. Auch Wasserkraft bleibt begrenzt: Einige kleine Anlagen liefern Strom, doch große Dämme sind technisch und finanziell nicht umsetzbar.
Klimapolitisch gilt Libanon damit als Land, das seine Commitments auf internationaler Bühne vorgelegt hat, diese aber weit hinter den Möglichkeiten zurückbleiben. Die wirtschaftliche Krise zwingt die Bevölkerung, kurzfristige Versorgung über langfristige Nachhaltigkeit zu stellen. Ein Umweltaktivist in Beirut formulierte es kürzlich so: „Wir reden über Solarzellen, während die Leute nicht einmal sicher sind, ob sie morgen Brot kaufen können.“
Dennoch entstehen Start-ups im Energiebereich. Firmen wie Mashriq Energy bieten schlüsselfertige Solarlösungen und Batteriespeicher an. Mit The Energy Hub, einer Initiative unter UNDP/CEDRO V, gibt es eine Plattform, die Gründer, Forscher und Ingenieure vernetzt. Das EU-finanzierte Programm REESTART unterstützt kleine und mittlere Unternehmen mit Pilotprojekten und Subventionen. Die Lebanese Foundation for Renewable Energy (LFRE) formuliert langfristige Ziele, etwa 30 Prozent grüner Energie bis Mitte der 2020er-Jahre und 50 Prozent bis 2030. Auch NGOs setzen sichtbare Zeichen: Die Organisation Anera hat in mehreren Gesundheitszentren Solarstromsysteme installiert, um bei Stromausfällen weiter arbeitsfähig zu bleiben.
Im Kern zeigt sich: Libanon ist offiziell Teil des globalen Klimarahmens und hat Klimaziele formuliert. Doch der Alltag des Landes macht deren Umsetzung schwer. Statt planvoller Transformation dominieren improvisierte Lösungen. Solaranlagen ersetzen Generatoren, weil es günstiger ist, nicht weil die Klimapolitik greift. Die Energiewende findet statt – aber mehr aus Notwendigkeit als aus Überzeugung.

Obwohl Libanon also viel zu wenig gegen den Klimawandel tut, ist es stark von dessen Folgen betroffen. Besonders deutlich zeigt sich das an der Wasserversorgung. 2025 erlebte das Land die schwerste Dürre seit Beginn der Messungen. Der wichtigste Stausee am Litani-Fluss fiel auf historische Tiefstände, Flüsse im Bekaa-Tal trockneten aus, und die Niederschläge lagen vielerorts mehr als die Hälfte unter dem langjährigen Mittel. Das hat direkte Auswirkungen: Wasserkraftwerke mussten zeitweise stillstehen, Felder in der Bekaa-Ebene wurden unzureichend bewässert, und die Trinkwasserversorgung verschlechterte sich. Hinzu kommt, dass marode Leitungsnetze große Mengen Wasser verlieren. Damit ist die Wasserknappheit eine der sichtbarsten Folgen des Klimawandels für Libanon – und zugleich ein Beispiel, wie sehr das Land schon heute unter den globalen Veränderungen leidet.
Der lange Schatten der Hafenexplosion 2020
Am 4. August 2020 explodierten im Hafen von Beirut 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat. Mehr als 200 Menschen starben, über 7.000 wurden verletzt, rund 300.000 verloren ihr Zuhause. Die Weltbank schätzte die Sachschäden auf bis zu 4,6 Milliarden US-Dollar, die wirtschaftlichen Verluste auf weitere 3,5 Milliarden. Betroffen waren vor allem Wohnen, Kultur, Handel und Gesundheit.

Der libanesische Staat verabschiedete zwar Gesetze für Schutz und Entschädigung, doch den Wiederaufbau trugen vor allem UN-Organisationen, NGOs, Stiftungen und die Diaspora. Die UNESCO rettete Denkmäler und Museen, unter anderem das Sursock-Museum, das 2023 wieder öffnete. Mit dem Programm BERYT wurden seit 2022 historische Wohnhäuser in Achrafieh, Rmeil und Medawar restauriert. In den Straßen von Gemmayzeh und Mar Mikhael sorgten kleinere Organisationen für Reparaturen, Bargeldhilfen und Materialgutscheine.
Auch der Hafen nahm seinen Betrieb wieder auf. Seit 2022 betreibt der französische Reeder CMA-CGM den Containerterminal und investiert in neue Ausrüstung. Ein 2024 vorgestellter Masterplan veranschlagt bis zu 80 Millionen US-Dollar für Kaianlagen, Verkehrsführung und Photovoltaik. Umstritten bleiben die Silos, von denen Teile 2022 einstürzten: Mahnmal oder Abriss – eine Entscheidung steht bis heute aus.
Die Finanzierung des Wiederaufbaus kam vor allem von internationalen Gebern. Der Lebanon Financing Facility bündelte Beiträge aus Europa und Nordamerika, Frankreich und Italien übernahmen zentrale Projekte beim Kulturerbe. Die Weltbank stellte 2025 ein zusätzliches Infrastrukturpaket von 250 Millionen US-Dollar bereit. Viele Versicherungsfälle blieben strittig, erste Entschädigungen erzwangen Opferfamilien vor Gerichten in Großbritannien.
Für viele Bewohner ist die Katastrophe bis heute präsent. Teile von Karantina stehen noch in Ruinen, Eigentumsfragen sind ungelöst, und die psychischen Folgen sind gravierend. Studien bestätigen hohe Raten von posttraumatischer Belastung, NGOs berichten von steigenden Suizidzahlen. Amnesty International bilanzierte 2023: „Niemand ist zur Verantwortung gezogen worden.“ Bis heute bleibt die juristische Aufarbeitung blockiert.

Die Explosion markiert für Libanon mehr als ein zerstörtes Stadtviertel. Sie ist Symbol einer Staatskrise, in der internationale Hilfe zum Tragen kam, während die eigene Politik versagte. Und sie bleibt eine offene Wunde – sichtbar in den Ruinen, spürbar im Alltag der Betroffenen.
Armut, schwache Versorgung und bedrohte Rechte
Nach Jahren der Finanzkrise, Stromausfälle, Preisexplosionen und anhaltender Unsicherheit kämpfen Haushalte nach wie vor mit hohen Lebenshaltungskosten und schwacher Versorgung. Viele Familien leben von Dollarüberweisungen aus der Diaspora oder punktuellen Hilfsleistungen. Wer kein solches Polster hat, spart beim Essen, bei Medikamenten und beim Schulbesuch der Kinder.
Die Kaufkraft ist das Kernproblem. Der gesetzliche Mindestlohn liegt seit August bei 28 Millionen libanesischen Pfund im Monat. Das entspricht etwa 310 US-Dollar zum aktuellen Wechselkurs. Eine fünfköpfige Familie braucht jedoch nach Berechnungen von Hilfsorganisationen im Schnitt rund 56 Millionen Pfund im Monat, allein um Grundbedürfnisse wie Essen, Miete, Strom und Transport zu decken. Das sind umgerechnet etwa 620 Dollar. Schon für Lebensmittel allein fallen rund 44 Millionen Pfund an. Mit einem Mindestlohn lässt sich also nicht einmal der reine Einkauf für Essen bezahlen, geschweige denn Miete oder Medikamente.
Armut bleibt verbreitet. In Beirut gibt es Inseln, in denen Dollar-Einkommen zirkulieren und der Alltag funktioniert. In prekären Stadtvierteln und im Norden (Akkar) sowie in Teilen des Bekaa-Tals sind Einkommen niedrig, Preise hoch und Wege zum Arzt weit. Auf dem Land federn Eigenproduktion und Nachbarschaftshilfe manches ab, doch Dürre, teurer Diesel und knappes Bewässerungswasser drücken Erträge und erhöhen Lebensmittelpreise. In den Städten sind Haushalte vollständig auf den Markt angewiesen — mit entsprechendem Preisdruck.

Die Gesundheitsversorgung steht unter Dauerstress. Öffentliche und private Krankenhäuser berichten über Personalmangel, Finanzierungslücken und teure Beschaffung von Medikamenten und Einwegmaterial. Stromausfälle zwingen weiterhin zum Betrieb von Generatoren; Diesel verteuert jede Behandlung. Der Staat kann offene Rechnungen nur verzögert begleichen, Versicherungen decken oft nur Basispakete. Chronisch Kranke müssen Medikamente aus dem Ausland besorgen oder Behandlungen verschieben. Parallel steigt der Bedarf an psychosozialer Betreuung: Viele Menschen leiden unter Angst, Depressionen und anhaltenden Stressfolgen — verstärkt durch wirtschaftliche Not, die Hafenexplosion 2020 und sicherheitspolitische Spannungen.
Bildung und soziale Dienste sind belastet. Öffentliche Schulen kämpfen mit Lehrermangel und zeitweiligen Streiks, Eltern können Schulgebühren oder Transportkosten nicht immer zahlen. Sozialprogramme sind fragmentiert: Es gibt Bargeldhilfen, Lebensmittelgutscheine und medizinische Unterstützung, doch die Abdeckung ist begrenzt und schwankt mit Mittelzuflüssen. Besonders verletzliche Gruppen — alleinerziehende Mütter, ältere Menschen ohne Familiennetz, Menschen mit Behinderung — laufen Gefahr, durch Raster zu fallen.
Die Flüchtlingssituation prägt die Lage zusätzlich. Die Regierung schätzt die Zahl der in Libanon lebenden Syrer auf etwa 1,4 Millionen; rund 720.000 von ihnen sind bei UNHCR registriert. Seit Ende 2024 und 2025 setzen Diskussionen über Rückkehrprogramme ein, einzelne Rückkehrbewegungen haben begonnen. Dennoch lebt die große Mehrheit weiterhin im Land. Unterbringung erfolgt in gemischten Formen: Mietwohnungen, informelle Siedlungen, Anbauten. Viele Familien zahlen hohe Mieten für einfache Unterkünfte, oft ohne stabile Wasserversorgung und mit unsicherer Stromlage. Arbeitsmöglichkeiten sind informell und schlecht bezahlt; Kinderarbeit ist in vielen Gemeinden sichtbar, aktuelle Studien weisen auf eine Zunahme hin, belastbare landesweite Zahlen für dieses Jahr liegen aber nicht vor.
Versorgungssysteme bleiben brüchig. Wasserwerke arbeiten mit Flickwerk und verlieren durch Leckagen große Mengen. Die Müllentsorgung ist regional instabil. Apotheken führen gängige Medikamente nicht immer; Preise schwanken je nach Importkanal. In ländlichen Gebieten sind Wege zu Kliniken lang, in städtischen Armenvierteln fehlen Geld und Transport, um Termine wahrzunehmen. Hilfsorganisationen füllen Lücken, etwa mit Basisgesundheitsdiensten, Ambulanzen, Impfprogrammen und psychosozialen Angeboten — doch die Nachfrage übersteigt regelmäßig die Kapazitäten.
Die Pressefreiheit ist weiterhin stark eingeschränkt. Libanon liegt im unteren Drittel des weltweiten Rankings. Journalistinnen und Journalisten sehen sich Drohungen, Verhören und Klagen wegen angeblicher Verleumdung ausgesetzt, häufig mit Bezug auf Kritik an Präsident, Armee oder religiösen Autoritäten. Das Strafrecht erlaubt hierfür Haftstrafen, und in der Vergangenheit wurden sogar Zivilpersonen vor Militärgerichten gestellt. Zwischen 2019 und 2024 registrierten Menschenrechtsorganisationen mehr als 1.600 solcher Verfahren. Frauen im Journalismus sind besonders gefährdet: Sie berichten von gezielten digitalen Angriffen, Einschüchterungen und Belästigungen, die oft straflos bleiben. Viele vermeiden bestimmte Themen oder verlassen Online-Plattformen, um sich zu schützen.
Auch die Stellung der Frauen in der Gesellschaft zeigt den Reformstau. Zwar tragen sie im Alltag die Hauptlast, sei es in Familien, Schulen oder Hilfsprojekten, doch rechtlich bleiben sie benachteiligt. Familien- und Erbrecht folgen konfessionellen Regeln, die Männern meist mehr Rechte einräumen. Gewalt gegen Frauen ist verbreitet, Anzeigen führen nur selten zu konsequenter Strafverfolgung. NGOs betreiben Aufklärungskampagnen und Schutzprogramme, doch der Staat reagiert nur begrenzt. Frauenrechtsverteidigerinnen und Aktivistinnen geraten zudem häufig selbst ins Visier: digitale Übergriffe, Cyberstalking und Einschüchterungskampagnen sind dokumentiert, ohne dass Polizei oder Justiz wirksam eingreifen.
Grundsätzlich steht auch die Meinungsfreiheit unter Druck. Oppositionelle Politiker, Aktivistinnen und Aktivisten berichten von Überwachung, Drohungen und Einschränkungen bei Demonstrationen. Proteste, die seit 2019 immer wieder aufflammen, werden vereinzelt auch mit Gewalt aufgelöst. Im Mai legte die Regierung einen neuen Entwurf für das Mediengesetz vor. Amnesty International begrüßte darin ausdrücklich die Abschaffung von Gefängnisstrafen für Beleidigungs- und Verleumdungsdelikte als Fortschritt. Zugleich warnte die Organisation, dass unklare Formulierungen und weitreichende Befugnisse bei der Lizenzvergabe die Unabhängigkeit der Medien gefährden und kritische Stimmen weiterhin unter Druck setzen könnten.
Unterm Strich bleibt die Lage ein Balanceakt: punktuelle Stabilisierung bei Preisen und Wechselkursen, aber eine reale Lebenssituation, die für viele Haushalte nicht tragfähig ist. Solange Löhne, soziale Sicherung, öffentliche Dienste und Grundrechte nicht verlässlich geschützt sind, bleibt das Überleben von Hilfen, Rücküberweisungen und Improvisation abhängig — und die Gesellschaft anfällig für weitere Erschütterungen.
Libanon und die Hisbollah im Geflecht der regionalen und globalen Achsen
Libanon ist ein kleines Land mit großen Nachbarschaften. Außenpolitisch war es immer ein Spiegel seiner inneren Vielfalt: Sunniten, Schiiten, Christen und Drusen verfolgen teils unterschiedliche Interessen, die das Handeln der Regierung nach außen prägen. Offiziell tritt Libanon als parlamentarische Republik mit einem Präsidenten, Premierminister und Parlament auf, die gemeinsam die Außenpolitik bestimmen. In der Realität wird dieser Kurs durch regionale Mächte, Geldflüsse und das Gewicht der Hisbollah stark beeinflusst.
Verbündete und Gegner
Staatlich bemüht sich Libanon um Balance. Mit Syrien gibt es seit 2023 wieder diplomatische Kontakte, nachdem arabische Staaten ihre Beziehungen zu Damaskus normalisierten. Dahinter steckt mehr als Symbolik: Syrien bleibt für den Libanon zentral, weil die Hisbollah dort seit dem Bürgerkrieg Stützpunkte und Nachschubrouten unterhält. Über die syrisch-libanesische Grenze laufen bis heute Waffen- und Versorgungslinien aus dem Iran, die für die Miliz lebenswichtig sind. Damaskus stimmt sich dabei eng mit Teheran über Waffenlieferungen und mit Moskau über militärische Präsenz und regionale Strategien ab – ein Netzwerk, das auch Beirut indirekt prägt.
Auch die Verbindungen zum Irak sind zweigleisig. Offiziell setzt die libanesische Regierung auf wirtschaftliche Kooperation, vor allem bei Energie. Seit 2021 liefert Bagdad Schweröl, das im Ausland raffiniert und anschließend zur Stromproduktion im Libanon eingesetzt wird – ein Rettungsanker in der Energiekrise, der zuletzt 2024 verlängert wurde. Parallel unterhält die Hisbollah enge Kontakte zu irakischen schiitischen Milizen, die in den „Popular Mobilization Forces“ (PMF) organisiert sind. Libanesische Ausbilder haben dort über Jahre hinweg Kämpfer in Sprengstoff- und Drohnentechnik geschult. Diese Verbindung macht den Irak zu einem weiteren Teil des strategischen Korridors Teheran–Bagdad–Damaskus–Beirut, der für Nachschub und Geldflüsse entscheidend ist.
Mit westlichen Ländern wie Frankreich, Deutschland und den USA bleiben die Beziehungen von Hilfen und Kritik zugleich geprägt: Hilfen für Wiederaufbau und Infrastruktur, Kritik wegen Korruption und wegen der militärischen Macht der Hisbollah. Auch Russland spielt eine Rolle, vor allem über seine Präsenz in Syrien. Dort koordinierte die Hisbollah während des Syrienkriegs zeitweise mit russischen Einheiten, während Moskau zugleich diplomatisch im UN-Sicherheitsrat agiert und wirtschaftlich über Weizenexporte und Energielieferungen Einfluss nimmt. Damit ist Libanon Teil einer breiteren Ost-West-Achse, in der Russland und Iran auf der einen und westliche Staaten auf der anderen Seite um Einfluss ringen. Mit Israel verbindet Libanon eine besondere Spannung: Seit Jahrzehnten gibt es keinen Friedensvertrag, und die Blue Line – die von den Vereinten Nationen überwachte Waffenstillstandslinie – bleibt eine fragile Sicherheitslinie.
Die Rolle der Hisbollah
Kein Akteur prägt die Außenpolitik stärker als die Hisbollah. Sie ist Partei im Parlament, zugleich aber auch eine bewaffnete Organisation, die vom Iran finanziert, ausgebildet und ausgerüstet wird. Teheran überweist geschätzt Hunderte Millionen US-Dollar pro Jahr, die in Gehälter, Waffen und soziale Dienste fließen. Mit dieser Finanzierung kann die Hisbollah ihren militärischen Arm unterhalten, der nach Schätzungen über zehntausende Kämpfer verfügt, Raketenlager und Drohnentechnik eingeschlossen. Politisch gibt sie sich als Verteidigerin des Libanon gegen Israel, real ist sie Teil eines regionalen Netzwerkes, das iranische Interessen in Syrien, Irak und Jemen absichert. Für viele Libanesen ist die Hisbollah Schutzmacht, für andere ein Staat im Staat, der die nationale Souveränität untergräbt.

Israel–Gaza-Konflikt
In keinem anderen Feld wird so deutlich wie hier, wie sehr das Handeln der Hisbollah das ganze Land bestimmt. Der Gaza-Krieg hat Libanon direkt in die Gewaltspirale gezogen. Seit Oktober 2023 kam es entlang der Südgrenze nicht nur zu vereinzelten Zwischenfällen, sondern zu einer Serie massiver Gefechte. Israel flog wiederholt Luftangriffe auf Ziele im Südlibanon, zerstörte Infrastruktur und meldete getötete Kämpfer der Hisbollah. Umgekehrt feuerte die Organisation hunderte Raketen und Drohnen auf israelisches Gebiet, oft in Koordination mit Ereignissen im Gazastreifen. Das Ziel war klar: Israel sollte auf zwei Fronten gleichzeitig gebunden werden.
Die Hisbollah ist dabei nicht nur ein lokaler Akteur. Sie ist über den Iran eng mit der Hamas verbunden. Beide Bewegungen sind Teil der sogenannten „Achse des Widerstands“, die Teheran seit Jahrzehnten aufbaut. Ausbildung, Geld und Waffen aus dem Iran fließen an beide Organisationen, und gemeinsame Strategien werden abgestimmt. Während die Hamas den Süden Israels von Gaza aus attackiert, hält die Hisbollah den Norden Israels in Alarmbereitschaft. Diese doppelte Bedrohung ist von Beginn an Kalkül und macht die Hisbollah zu einem zentralen Player im Gaza-Krieg.
Für Israel ist die Lage entsprechend ernst. Die Armee verstärkte den Norden mit Truppen, evakuierte Grenzdörfer und erklärte Teile des Südlibanon zur „operativen Zone“. In den libanesischen Grenzregionen mussten ganze Ortschaften ihre Häuser verlassen. UNIFIL, die UN-Friedensmission, meldet seit Monaten die höchste Zahl von Verstößen gegen die Waffenstillstandslinie seit 2006.

Offiziell betont die libanesische Regierung Neutralität. Präsident Joseph Aoun und Premier Nawaf Salam erklären regelmäßig, Libanon wolle keinen Krieg mit Israel. Doch dieser staatliche Kurs wird von der Realität an der Südfront überlagert: Dort bestimmt die Hisbollah, wann Raketen starten und wann Ruhe einkehrt. Für viele Libanesen bedeutet das, dass ihr Land faktisch Teil des Gaza-Kriegs geworden ist – ohne dass sie gefragt wurden.
Aktuell zeigt sich die Lage gespannter Stillstand. Seit Mitte 2024 sind die massiven Schlagabtausche seltener geworden, doch es bleibt bei fast täglichen Zwischenfällen entlang der Grenze. Kleinere Raketenangriffe, Drohnenflüge und israelische Gegenschläge gehören zum Alltag. Ganze Dörfer im Süden sind weiter entvölkert, Felder liegen brach, und die Rückkehr vieler Familien bleibt unsicher. Diplomaten sprechen von einer „kalten Front“, die jederzeit wieder heiß werden könnte, sollte sich die Lage in Gaza oder Syrien erneut zuspitzen.
Positionen nach Konfessionen
Außenpolitische Orientierung ist im Libanon zugleich eng mit den religiösen Lagern verknüpft. Sunnitische Parteien suchen Nähe zu Saudi-Arabien und betonen Distanz zum Iran, während schiitische Parteien, allen voran Amal und die Hisbollah, die Verbindung nach Teheran stärken. Christliche Parteien sind gespalten: Teile arbeiten mit der Hisbollah zusammen, andere lehnen sie scharf ab. Daraus ergibt sich eine Außenpolitik, die oft widersprüchlich wirkt, weil jede Gruppe ihre eigene Achse im regionalen Spiel hat.
Außenwirtschaft und Geldflüsse
Wirtschaftlich bleibt Libanon stark von außen abhängig. Rücküberweisungen der Diaspora machen mehr als ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts aus und kommen vor allem aus den Golfstaaten, Europa und Nordamerika. Internationale Hilfsgelder stammen von der Weltbank, der EU, den Vereinten Nationen und einzelnen Staaten wie Frankreich oder Katar. Der Außenhandel ist unausgeglichen: Libanon exportiert vor allem Agrarprodukte, Mineralien und Metalle, importiert aber Ölprodukte, Maschinen, Medikamente und Nahrungsmittel in großem Umfang. Handelspartner sind vor allem die EU, China, die Golfstaaten und die Türkei.
Ein fragiles Netzwerk
Unterm Strich zeigt sich: Libanon ist kein souveräner Außenakteur im klassischen Sinn. Das Land hängt an Hilfen, an Rücküberweisungen, an Importen – und es hängt am Einfluss der Hisbollah, die ihrerseits Teil iranischer Strategien ist. Das erklärt, warum offizielle Politik und reale Macht oft auseinanderfallen. Auf Konferenzen betonen Präsident und Premier Neutralität und Reformbereitschaft. Auf der Straße im Süden zeigt die Realität Raketenstellungen und UN-Blauhelme, die versuchen, die fragile Ruhe zu sichern.
Das nächste Jahr im Libanon – kleine Schritte, große Lasten
Die kommenden zwölf Monate werden für Libanon ein Balanceakt. Punkt. Politisch hängt vieles davon ab, ob Präsident Joseph Aoun und Premier Nawaf Salam Reformen nicht nur ankündigen, sondern auch durch das konfessionelle System tragen können. Gelingt es, spürbare Fortschritte bei der Bankenkrise, der Stromversorgung und der Justiz zu zeigen, kann Vertrauen wachsen – bei den eigenen Bürgern wie auch bei internationalen Geldgebern.
Die größere Gefahr liegt an der Südgrenze. Dort droht keine Ausweitung aus Gaza heraus, sondern eine direkte Konfrontation zwischen Israel und der Hisbollah. Luftangriffe, Raketen, Drohnen und Gegenangriffe haben gezeigt, wie schnell die Lage kippen kann. UN-Beobachter melden fortlaufend Vorfälle entlang der Blue Line, ganze Dörfer bleiben entvölkert. Solange es keine verlässliche Sicherheitsarchitektur gibt, bleibt der Alltag im Süden fragil, und jede Woche kann die sein, in der sich die Front wieder öffnet.
Ökonomisch bleibt das Fundament dünn. Rücküberweisungen und Hilfen stützen den Konsum, doch ein echtes Wachstumsmodell ist nicht in Sicht. Wenn die Regierung bei Bankenreform, Haushaltsdisziplin und Energieversorgung spürbar vorankommt, kann das kommende Jahr zumindest Stabilität bringen: mehr verlässlicher Strom, etwas planbarere Preise, wieder etwas Zuversicht. Bleiben Entscheidungen aus, werden Abwanderung, schwache Löhne und Unsicherheit die Gegenwart bestimmen.
Für die Menschen bedeutet das kleine Fortschritte im Alltag, begleitet von großer Ungewissheit. Schulen öffnen, doch viele Kinder jobben mit. Krankenhäuser arbeiten, doch Medikamente fehlen. Das Leben geht weiter, aber oft auf dünnem Boden.

Am Abend sitzt Karim noch immer an seinem Posten nahe der syrischen Grenze. Es ist ungewöhnlich still. Kein Dröhnen in der Ferne, kein Knattern über den Hügeln. Die Straße nach Talkalakh zieht sich einsam durch die Landschaft, ohne Fahrzeuge, ohne Stimmen. Das Funkgerät rauscht leise. Zum ersten Mal seit Tagen spürt er so etwas wie Ruhe.
Er versinkt in Gedanken. Seit seiner Jugend trägt er die Uniform der Hisbollah, und sie ist längst Teil von ihm geworden, wie eine zweite Haut. Die Jahre haben ihn geformt, jeder Einsatz, jede Wache, jeder Befehl. Für ihn war es nie nur eine Organisation, sondern ein Zuhause, eine Moral, ein Versprechen, das Land zu schützen. Manchmal glaubt er, dass sein ganzes Leben wertlos wäre, wenn er dieses Versprechen bräche. Wer die Waffe niederlegt, verrät nicht nur Kameraden, er verrät auch eine Idee, die ihn getragen hat. So fühlt er es.
Und doch ist da ein anderer Gedanke, der immer stärker wird. Die Sehnsucht nach einem einfachen Leben. Nach einem Morgen, an dem er aufsteht, ohne den Druck des Funkgeräts zu spüren, ohne das ständige Gefühl, dass der nächste Befehl jede Ruhe zerschneiden könnte. Nach einem Frühstück mit seiner Frau, den Stimmen seiner Kinder, die durcheinanderreden, während das Brot noch warm ist. Er weiß, dass er müde geworden ist. Aber er glaubt auch, dass sein Land voller Unruhe bleibt, dass jeder Mann gebraucht wird, dass sein Platz eigentlich hier ist, nicht dort.
Dieser Zwiespalt frisst sich in ihn hinein. Er spürt Loyalität und Erschöpfung zugleich. Stolz, ein Teil von etwas Größerem zu sein, und das leise Verlangen, nur noch Vater zu sein. Für einen Moment fragt er sich, ob die Richtung, die die Hisbollah eingeschlagen hat, wirklich der richtige Weg ist. Doch kaum hat sich der Gedanke geformt, traut er sich nicht, ihn weiterzudenken. Karim hebt den Blick, schaut über die staubige Straße nach Syrien hinüber. Er weiß, dass seine Entscheidung nicht heute fällt. Aber er ahnt, dass sie kommen wird – und dass er seine Gedanken befreien muss. Nein – das wünscht er sich.
Quellenliste mit Links
Politische Lage / Institutionen
- Reuters: Wahl von Joseph Aoun zum Präsidenten, Unterstützung durch Hisbollah, Januar 2025
Reuters - Reuters: Ernennung von Nawaf Salam zum Premierminister, Februar 2025
Reuters - Transparency International: Corruption Perceptions Index 2024/25, Libanon Rang 154 von 180
Transparency.org
Wirtschaft / Finanzen
- Weltbank: GDP Lebanon, Halbierung seit 2018
World Bank Data - IWF: Schuldenstand >280 % des BIP (Country Report 2024/25)
IMF - Reuters/Trading Economics: Inflationswerte 2022–2025, LBP/USD-Kurs um 89.700
TradingEconomics - UN ESCWA: Daten zur Arbeitslosigkeit (~30 %) und Jugend-Arbeitslosigkeit
ESCWA
Energie / Klima
- UNFCCC NDC Registry: Libanon NDC Update 2021 (20–31 % Emissionsziel, 18 % Erneuerbare)
UNFCCC - Reuters: Solar-Verträge 2025 (45 MW, September)
Reuters - Weltbank/EU-Projekte: Förderung von Off-Grid-Solaranlagen
World Bank - Anera: Solaranlagen in Gesundheitszentren
Anera - Libanesisches Energieministerium / Presseberichte: Dürre 2025, niedrigster Pegel Litani-Stausee
Daily Star Archive / National News Agency
Hafenexplosion Beirut 2020
- Weltbank RDNA (Rapid Damage and Needs Assessment) 05.08.2020: Schadensbilanz
World Bank - UNESCO: LiBeirut-Programm, Wiedereröffnung Sursock-Museum 2023
UNESCO - UN-Habitat/UNESCO: BERYT-Programm (Wohnhäuser, Kulturförderung)
UN-Habitat - Reuters/AP: CMA-CGM-Konzession 2022, Hafen-Masterplan 2024 (Artelia/Egis)
Reuters - Amnesty International, August 2023: „absolutely no one has been held responsible“
Amnesty - Britisches Gericht: Urteil gegen Savaro Ltd., Juni 2023
The Guardian
Humanitäre Lage / Armut / Gesundheit
- UN OCHA: Minimum Expenditure Basket (MEB) & Food-SMEB, Mai 2025
OCHA ReliefWeb - UNHCR: Registrierte syrische Flüchtlinge (~720.000), Regierungsschätzung >1 Mio.
UNHCR - Ärzte ohne Grenzen: Psychische Gesundheit, Medikamentenmangel, Berichte 2021–2025
MSF - UNICEF: Kinderarbeit und Bildungslücken im Libanon
UNICEF
Menschenrechte / Medien / Frauen
- Amnesty International: Stellungnahme zum Mediengesetz-Entwurf 2025
Amnesty - Reporter ohne Grenzen (RSF): Ranking Libanon im unteren Drittel, 2025
RSF - HRW: Gewalt gegen Frauen, konfessionelles Familienrecht
Human Rights Watch
Außenpolitik / Hisbollah / Konflikte
- Reuters/AP: Hisbollah–Israel-Gefechte 2023–2024, Blue Line-Vorfälle, UNIFIL-Mandatsverlängerung Aug. 2025
AP News, Reuters - Washington Institute / Crisis Group: Achse Iran–Hisbollah–Hamas, Koordination im Gaza-Krieg
Washington Institute - UNIFIL/UN-Sicherheitsrat: Resolution 1701 und Mandatsberichte 2023–2025
UN Security Council - Reuters: Irak-Öl-Lieferungen seit 2021, Verlängerung 2024
Reuters - US State Dept / OFAC: Profile der Hisbollah-Finanzierung über Iran
US Treasury

