Irak im September 2025: Zuversicht zwischen Ordnungssuche und Restgefahr
Lizenzartikel von Jürgen Dirrigl – Titelbild und alle Bilder im Artikel: AMEPRES
Als der Tag in Bagdad anbricht, liegt die Stadt im warmen Dunst. In den Ministerien brennt Licht. Beamte sortieren Aktenordner, Projektlisten, Wahlkalender.
Ein Jahrzehnt nach der Befreiung von Mossul versucht der Irak, den Alltag auf stabile Gleise zu setzen – Strom in den Leitungen, Jobs auf den Baustellen, Wählerlisten auf den Servern. Premier Mohammed Schiaʿ al-Sudani reist zwischen Projektunterzeichnungen und Kabinettssitzungen, setzt Signale an Investoren. Anfang September steht er neben den Chefs von TotalEnergies und QatarEnergy, als die Regierung die nächste Bauphase des Milliarden-Pakets für Öl, Gas und Strom freigibt. Später lässt sein Büro die Botschaft zirkulieren: Die Investitionswelle ist real.

GGIP liefert: Wie Gas, Wasser und Solar Iraks Netz umbauen sollen
Im Süden, zwischen Ölfeldern und Marschland, setzt das Prestigeprojekt an: das GGIP – das „Gas Growth Integrated Project“, ein Regierungs- und Industriepakt, der abgefackeltes Begleitgas einfängt, die Stromerzeugung speist, mit einem gigantischen Seewasser-Projekt die Ölförderung stabilisiert und mit einem 1-Gigawatt-Solarpark eine neue Energieachse baut.
Das Seewasser-Vorhaben läuft im technischen Sprachgebrauch unter CSSP („Common Seawater Supply Project“, ein Verbund zur Aufbereitung und Einspeisung großer Wassermengen in Ölfelder). Mitte September verkündet die Regierung gemeinsam mit den Konzernen den Start weiterer Bauphasen – Verträge für eine zentrale Öl- und Gas-Anlage, eine Gasfabrik und die Aufbereitung von Millionen Barrel Seewasser pro Tag.
Der Tenor: Das Projekt soll Arbeitsplätze schaffen, Importabhängigkeit reduzieren und das Netz stabilisieren. „Ich bin stolz zu bestätigen, dass die erste Phase der Gas-, Öl- und Solarprojekte bereits Anfang 2026 in Betrieb gehen wird“, erklärt Patrick Pouyanné von TotalEnergies in einer Pressemitteilung vom 15.09.2025.

Wenn die Hitze das Licht frisst: Der Sommer-Blackout
Stabilität ist selten linear. Im August geht für viele Stunden das Licht aus: Ein Laststurz im Netz nach einer Störung im Westen reißt weite Teile des Zentrums und Südens mit in den Blackout. Tags darauf meldet die Regierung die Wiederherstellung.
Es klingt nach Pragmatismus, aber auch nach einem Eingeständnis struktureller Schwächen – bei bis zu 50 °C Sommerhitze reicht eine Kettenreaktion, und ganze Provinzen stehen still. Jede Störung wird zur Erinnerung daran, wie schmal die Reserve ist und wie dringlich Netzausbau und Gas-zu-Strom-Projekte bleiben.

Ceyhan steht still: Eine Pipeline als Machtprobe
Während Bagdad investiert, bleibt im Norden eine Ader auf „Pause“: die kurdischen Exporte über die türkische Mittelmeerleitung nach Ceyhan. Ankündigungen eines baldigen Neustarts folgen auf Dementis aus der Branche. Politik spricht von Stunden, die Realität zählt Wochen.
Zwischen Erbil und Bagdad geht es um Volumen, Verträge und Erlösverteilung – und zwischen Irak und Türkei um die Konditionen des Pipeline-Abkommens. Solange die Leitung schweigt, fehlen Einnahmen; wenn sie wieder anläuft, stellt sich die Frage, wie die SOMO („State Oil Marketing Organization“, der staatliche irakische Ölvermarkter) die Ströme integriert und Kontrakte zur Autonomen Region Kurdistan (KRG/KRI) ordnet.

Globale Koalition wird zum beratenden Partner
Die Sicherheitslage wirkt ruhiger als vor Jahren, doch die Schatten sind nicht verschwunden. Eine gezielte Operation im März zerschlägt die Spitze der Reste des IS („Islamische Staat“). Kurz darauf beginnt der formale Übergang: Die Mission der Globalen Koalition OIR („Operation Inherent Resolve“, der Anti-IS-Einsatz seit 2014) endet in Irak, die Zusammenarbeit geht in Beratung und Kapazitätsaufbau über. Das klingt technokratisch, ist aber politisch: weniger Soldaten, mehr Training, bilaterale Vereinbarungen – und die Frage, ob die irakischen Kräfte das verbleibende Terror-Netzwerk engmaschig halten.
Vom Feld zur Strafkammer: Wie die Justiz Netzwerke austrocknet
Parallel laufen Justizprozesse. Aus kurdischer Haft in Nordsyrien werden mutmaßliche ausländische IS-Mitglieder an Irak überstellt, um sich Verfahren zu stellen. Während die internationale Bühne auf geopolitische Bewegungen blickt, füllen Gerichte Akten, und Ermittler:innen verfolgen Hinweise zu Verschleppungen, Finanzwegen und Netzwerkresten.

Sinjar wartet: Frieden ohne Rückkehr?
Im Nordwesten, in Sinjar, ist der Krieg vorbei, aber der Alltag kehrt zu langsam zurück. Diplomatische Appelle erinnern an Abkommen, die Verwaltung, Sicherheit und Dienste ordnen sollen, damit Binnenvertriebene heimkehren können. Die Formulierungen sind nüchtern, der Subtext deutlich: Ohne verlässliche Strukturen bleibt die Heimkehr Wunsch, nicht Wirklichkeit.
Öl, OPEC+, Inflation: Zahlen, die Politik machen
Die Wirtschaftsdaten schreiben keine Heldenreise, eher eine Disziplinübung. Der IWF – der Internationale Währungsfonds – meldet eine gedämpfte Inflation und warnt zugleich vor fiskalem Druck, wenn Ölpreise fallen und Ausgaben hoch bleiben.
Anfang September positioniert sich der Premier vor einem Treffen der OPEC+ – dem erweiterten Produzentenbündnis aus OPEC-Staaten und Partnern – ungewöhnlich offen, während SOMO Exportziele im Bereich von 3,4 Millionen Barrel pro Tag anpeilt. Hinter den Zahlen steht ein Trio aus Risiken: überdehnter Staat, verwundbares Netz, Abhängigkeit vom Rohstoff.

Drehscheibe zwischen Nachbarn und Großmächten
Der Irak liegt wie ein Knoten in der Karte: zwischen Iran, Türkei, Syrien und Jordanien, mit einer kleinen Tür zum Persischen Golf. Öl und Gas machen ihn wichtig – und begehrt.
Die USA ziehen ihre Anti-IS-Mission in eine Berater- und Ausbildungsrolle um: weniger Soldaten, mehr Training und Druck zu Reformen (sauberer Zahlungsverkehr in US-Dollar, stabileres Stromnetz).
Iran hält engen Kontakt zu schiitischen Regierungs- und Parlamentsparteien, zu Teilen der Volksmobilisierungskräfte (PMF/Hashd) sowie zu Ministerien im Energie- und Stromsektor – unter anderem zwecks Strom- und Gaslieferungen aus Iran.
Für Teheran ist der Irak außerdem eine entscheidende Transitstrecke Richtung Syrien und Libanon. Iran nutz diese für die Logistik zu verbündeten Gruppen (u. a. Hezbollah) und ihren lokalen Proxys. Transportiert werden Waffen und Munition (inkl. Raketen, Drohnen bzw. Drohnenkomponenten und Präzisionsbauteile), Ausbilder/Berater sowie Finanzmittel und Treibstoff. Typische Routen verlaufen über die Achse Kermanschah – Bagdad – al-Qaim/al-Bukamal – Deir ez-Zor – Damaskus/Beirut, teils in getarnten Lkw-Konvois oder als zivile Fracht deklariert.
Die Türkei verfolgt im Irak drei handfeste Ziele:
- SICHERHEIT: Sie will PKK-Stützpunkte im Nordirak (u. a. Qandil, Gara, Sinjar) zerschlagen und fliegt dafür Luft- und Drohnenschläge sowie Grenzoperationen.
- WASSER: Als Oberlieger an Tigris und Euphrat steuert Ankara über Stauseen die Abflussmengen – das ist ein Druckmittel in Gesprächen mit Bagdad (Auswirkungen auf Bewässerung, Trinkwasser, Strom).
- HANDEL & ÖL: Die Grenzübergänge Habur/Ibrahim Khalil halten den Lastwagenverkehr und damit den Handel am Laufen. Über die Kirkuk–Ceyhan-Pipeline nach Ceyhan kann Ankara zudem Exportmengen kurdischen Öls ermöglichen oder bremsen. Das verschafft der Türkei Einfluss in Verhandlungen zwischen den Kurden und Irak (Erlösverteilung, Verträge) – läuft die Leitung, fließen Einnahmen; steht sie still, wächst der Druck auf beide.
Aus dem Golf (Saudi-Arabien, VAE, Katar) kommen Investitionen, Strom-Verbindungen und Industriepläne – wirtschaftlich, um Aufträge für eigene Staatskonzerne zu sichern, Öl-Erlöse in rentable Projekte zu lenken und Iraks Stromlücke zu schließen; politisch, um Einfluss in Bagdad aufzubauen, Iraks Abhängigkeit von Iran zu verringern und die Anbindung an arabische Netze zu stärken.
Europa mischt mit, weil es Energie und Stabilität braucht – und weil eigene Firmen daran verdienen. Europäische Unternehmen bauen im Irak Öl- und Gasanlagen, Stromnetze, Turbinen und Solarparks; sichtbar etwa bei TotalEnergies. Finanziert wird das oft zusätzlich über europäische Entwicklungsbanken (Kredite, Garantien). Europa bringt klare Regeln mit (Ausschreibungen, Umwelt, Transparenz). Ziel auf europäischer Seite: verlässliche Energiebeziehungen, die konkret die Abhängigkeit von iranischen Strom-/Gasimporten und türkischen Transitwegen (Ceyhan-Pipeline) reduzieren.
China baut leise, aber groß – und verfolgt damit drei Ziele: erstens Aufträge und Gewinne für eigene Firmen (Kredite fließen zurück an chinesische Bau- und Energiekonzerne), zweitens Planungssicherheit bei Öl und Gas (Lieferverträge, teils mit Rückzahlung „in Öl“), drittens politischen Einfluss durch Abhängigkeit von Finanzierung, Technik und Wartung. Über diese Projekte bindet Peking den Irak an die „Neue Seidenstraße“ an – Häfen, Straßen und Kraftwerke werden Teil einer chinesischen Liefer- und Energiekette: Geld und Beton heute, Bindungen für morgen.
Russland nimmt Einfluss auf zwei Wegen: Am OPEC+-Tisch verhandelt Moskau mit über Fördergrenzen. Wenn Kürzungen beschlossen werden, muss der Irak seine Exportpläne anpassen – weniger Volumen kann kurzfristig Einnahmen drücken, stabilere Preise sie aber teils ausgleichen.
Vor Ort halten russische Firmen Anteile an großen Feldern (z. B. West Qurna-2 über Lukoil, Badra über Gazprom Neft) und waren am kurdischen Exportnetz beteiligt (Rosneft). Diese Verträge, Technik und Dienstleistungen verankern Moskau tief im irakischen und kurdischen Ölsektor – wirtschaftlich (Erlöse, Investitionen) und politisch (Verhandlungsspielraum gegenüber Bagdad und Erbil).

Für den Irak heißt das: klug balancieren – Sicherheitszusagen der USA nutzen, den Nachbarschaftsdruck von Iran und Türkei ausgleichen.
In Bagdad versucht man Kapital aus dem Golf und Asien anzuziehen, um die Öleinnahmen spürbar zu verbessern: Gas-zu-Strom, CSSP-Seewasser für die Ölfelder und Solar sind Zugpferde für ausländisches Investment. Gelingt das, wächst Iraks Spielraum; misslingt es, ziehen die äußeren Kräfte stärker an diesem Knoten.
Zwischen Baugrube und Bilanz: Was Alltag wirklich heißt
Zwischen all dem liegt der Alltag der Menschen. Wenn die Klimaanlagen laufen, ist der Staat präsent; wenn sie schweigen, wird die Modernisierung zur Hitzefrage. GGIP verspricht Entlastung, die Blackouts erinnern an die dünne Reserve. Wenn die Pipeline schweigt, fehlen Einnahmen; wenn sie wieder anläuft, beginnt die Debatte über Erlösverteilung neu.
Bald endet die Koalitionsmission, dann zeigt sich die Reife der Sicherheitskräfte. Die Gerichte verhandeln auf Hochtouren, was zeigt, dass der Kampf gegen den IS längst auch in Archiven und Strafkammern geführt wird.
Aus Dokumenten, Beschlüssen und Zahlen entsteht das Bild eines Staates, der sich – tastend, widersprüchlich – erneuert. Kein Triumph, sondern das langsame Durchsetzen von Verfahren: eine Pressemitteilung mit einem harten Satz, ein diplomatischer Appell, eine nüchterne Zeile zu einer Pipeline, ein CEO, der Jobs verspricht. Die Summe ist die Geschichte eines Landes, das Zukunft nicht mit einem Schalter umlegt, sondern sie aus Hochspannung und Haushaltszahlen, Gerichtsakten und Baugruben zusammensetzt.

Ist der Irak heute ein sicheres Land?
Für Menschen, die im Irak leben, ist 2025 vieles ruhiger als in den Kriegsjahren, aber wirklich sicher ist es nicht. Entlang der Wüsten- und Berggürtel von Anbar über Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala bis Ninawa agieren weiter IS-Restzellen – mit Sprengsätzen am Straßenrand, Angriffen auf Checkpoints und Erpressung in Dörfern.
Iran-nahe Milizen aus dem Hashd-Umfeld greifen zudem mit Raketen und Einwegdrohnen immer wieder US- und Koalitionsstandorte an – etwa Ain al-Asad (Anbar) oder Harir bei Erbil – und gelegentlich Energie- oder Logistikziele; für Zivilisten entstehen Risiken durch Fehlflüge, Splitter und Gegenschläge. Dazu kommen grenzüberschreitende Schläge: Die Türkei fliegt regelmäßig Luft- und Drohneneinsätze gegen PKK-Stellungen in der Kurdischen Region (Qandil, Gara, Sinjar), und aus Iran gab es wiederholt Raketen- und Drohnenangriffe auf Ziele in Erbil.

Im Alltag belastend sind auch lokale Gewaltkonflikte und Entführungen sowie eine fragile Infrastruktur: Bei Stromausfällen während Hitzeperioden mit 45–50 °C fallen Ampeln, Kliniken und Wasserversorgung aus – mit unmittelbaren Gesundheits- und Unfallrisiken. „Die südlichen Gouvernements sind weiter mit schweren klimabedingten Herausforderungen konfrontiert – Dürre, Wasserknappheit und zunehmende Versalzung“, heißt es seitens der UN.
Politisch wirkt das System stabiler, bleibt aber brüchig: Streit zwischen Bagdad und Erbil über Öl- und Budgetfragen, Reibungen in Sicherheitsapparaten und die Gefahr plötzlicher Proteste können die Lage schnell kippen lassen.
Unterm Strich ist Sicherheit sehr ungleich verteilt – tagsüber in großen Städten oft normal, in ländlichen Korridoren deutlich riskanter –, aber landesweit kein verlässlicher Zustand. Am Rand bemerkt: Auch die USA, Deutschland, Großbritannien und Kanada unterstreichen diese Bewertung mit anhaltenden Risikohinweisen und Reisewarnungen.

Quellen (Auszug, Stand 18.09.2025)
- Amepres Lokaljournalisten-Netzwerk Bagdad/Erbil
- U.S. Central Command – Press Release (14.03.2025) zu gezielter Operation in Anbar.
https://www.centcom.mil/ - Reuters – Meldungen zu GGIP (TotalEnergies/QatarEnergy/Basra Oil), Stromnetz-Blackouts (11./12.08.2025), Ölexporte/OPEC+ (06.09.2025), Ceyhan-Pipeline (06.–07.08.2025).
https://www.reuters.com/ - TotalEnergies – Unternehmensmitteilung (Sept. 2025) zu Projektphasen, Jobs, Start 2026.
https://totalenergies.com/ - European External Action Service (EU-Delegation Irak) – Statement zu Sinjar (03.08.2025).
https://www.eeas.europa.eu/ - International Monetary Fund – Article IV Country Report Irak (Juli 2025).
https://www.imf.org/ - Associated Press – Meldung zu Transfers mutmaßlicher IS-Verdächtiger aus SDF-Haft nach Irak (18.09.2025).
https://apnews.com/ - Iraqi News Agency (INA) – Hinweise/Ankündigungen zum Ceyhan-Restart (Aug. 2025).
https://ina.iq/