Türkei im September 2025: Menschenrechtsbruch, Wirtschaftsdruck und neue Allianzen
Lizenzartikel von Jürgen Dirrigl – Titelbild und alle Bilder im Artikel: AMEPRES
Als die Sonne über das Goldenen Horn klettert, legt sich ein seltsamer Kontrast über Istanbul: Morgens pulsiert die Stadt wie gewohnt, abends hält sie kurz den Atem an.
Seit dem 19. März 2025 sitzt der populärste Oppositionspolitiker des Landes in Haft: Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu. In den ersten Stunden nach seiner Festnahme versammelten sich Hunderte Menschen vor der Polizeidirektion und riefen Parolen, die man in dieser Lautstärke seit Jahren nicht mehr gehört hatte. „Sie führen gerade einen Putsch durch gegen İmamoğlu“, ruft ein Demonstrant in eine Kamera.
Die Behörden dagegen erklären, dies sei eine normale Justizmaßnahme, die Gerichte handelten unabhängig. Doch in den Wochen danach breiten sich die Proteste über mehrere Städte aus; die Polizei greift hart durch, Straßensperren prägen das Bild. Menschenrechtsorganisationen sprechen von einem „eklatanten Missbrauch des Justizsystems“. Die Regierung weist politische Motive zurück und betont, dass das Rechtssystem unangetastet sei.

Kavala und Demirtaş – Symbole für Justiz und Machtmissbrauch in der Türke
Im selben Geflecht von Prozessen bleiben Osman Kavala und Selahattin Demirtaş Symbolfiguren. Kavala, Unternehmer und Kulturförderer, wurde 2017 verhaftet – ihm wird bis heute Beteiligung an den Gezi-Protesten 2013 und am Putschversuch 2016 vorgeworfen, Beweise gelten international als schwach.
Demirtaş, Ex-Chef der pro-kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker), sitzt seit 2016 in Haft wegen angeblicher Unterstützung der verbotenen PKK und Aufrufen zu Protesten in Kobane 2014.
Beide Fälle stehen für den harten Umgang des Staates mit Opposition und Meinungsfreiheit. Der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte urteilte 2020 (Demirtaş) und 2022 (Kavala), die Inhaftierungen seien politisch motiviert und unrechtmäßig: „die Türkei habe ihre Pflicht zur Umsetzung der Freilassungsanordnung verletzt.“
Der Europarat erinnert seither regelmäßig an die Verpflichtung, beide Urteile zu befolgen. In der Praxis ändert das bisher nichts: Kavala sitzt weiterhin, Demirtaş ebenso.

Pressefreiheit unter Druck
Wie frei man über diese Fälle schreiben darf, lässt sich an einer Zahl ablesen: 159 von 180. So weit unten rangiert die Türkei im Pressefreiheitsindex 2025 von Reporter ohne Grenzen. Damit erklärt sich, warum Journalistinnen und Journalisten bei Demonstrationen häufiger im Fokus stehen, Festnahmen erleben oder mit Ermittlungen konfrontiert werden.
Internationale Organisationen sehen darin einen strukturellen Abbau der Medienfreiheit, während die Regierung betont, die Gesetze würden nur gegen „Fake News“ und „terroristische Propaganda“ angewandt. Für Medienhäuser bedeutet dieser Rangplatz nicht nur symbolischen Druck, sondern konkrete wirtschaftliche Folgen – Werbeeinnahmen sinken, internationale Kooperationen werden schwieriger.

Geldpolitik zwischen Risiko und Strategie
Während die Innenpolitik die Schlagzeilen bestimmt, versucht die Wirtschaft, einen eigenen Rhythmus zu halten. Am 11. September senkte die CBRT (Central Bank of the Republic of Türkiye, Türkische Zentralbank) den Leitzins um 250 Basispunkte – von 43 Prozent auf 40,5 Prozent. Offiziell heißt es in der Entscheidung: „Der Ausschuss beschloss, den Leitzins … von 43 Prozent auf 40,5 Prozent zu senken.“ Dieser Schritt erfolgte, obwohl die Verbraucherpreise im August laut TÜİK (Türkiye İstatistik Kurumu, Türkisches Statistikamt) um 32,95 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen waren, im Monatsvergleich um 2,04 Prozent.
In den Monatsberichten liest sich das nüchtern: „Der Verbraucherpreisindex stieg jährlich um 32,95 % und monatlich um 2,04 %.“ Die Regierung verweist auf ihr Mittelfristprogramm (MTP), das bis Ende 2025 eine Inflationsrate von rund 28,5 Prozent und bis 2027 einstellige Werte vorsieht. Analysten äußern Zweifel: Zu stark sei die Preisdynamik, zu groß der politische Druck auf die Notenbank. Für viele Familien in der Türkei bedeutet die Inflation ganz konkret steigende Lebensmittelpreise, höhere Mieten und ein Gefühl permanenter Unsicherheit.

Außenpolitik zwischen Härte und Öffnung
Erdoğans Außenpolitik ist zugleich transaktional und opportunitätsgetrieben. Befürworter sehen darin nüchternes Krisenmanagement eines Mittelmacht-Staates zwischen Blöcken. Kritiker sprechen von Hedging auf Kosten von Verlässlichkeit. Beide Seiten haben Punkte – und genau deshalb gelingt es Ankara häufig, aus Konflikten Spielräume zu ziehen, ohne sich unumkehrbar festzulegen. So steuert Ankara auf eine strategische Autonomie zu: Die Türkei bleibt NATO-Verbündete, versucht aber gleichzeitig, ihre Handlungsfreiheit zu maximieren.
Nach Jahren der Verstimmung mit Washington sucht Erdoğan nun sichtbar die Wiederannäherung. Der Bruch war durch den Kauf russischer S-400-Flugabwehrsysteme entstanden. In der Folge wurde die Türkei aus dem F-35-Programm ausgeschlossen. Außerdem belegten die USA die türkische Rüstungsbeschaffungsbehörde mit Sanktionen.
2024 ratifizierte Ankara dann den NATO-Beitritt Schwedens. Damit machte die Türkei den Weg für ein Rüstungsgeschäft mit den USA frei. Washington hatte zuvor zugesagt, die türkische Luftwaffe mit F-16-Kampfflugzeugen und Modernisierungskits für die bestehende Flotte auszustatten. Dieses Paket gilt als Ausgleich dafür, dass die Türkei aus dem F-35-Programm ausgeschlossen wurde.
Vor der UN-Woche 2025 kündigte Ankara zusätzlich an, einige seit 2018 geltende Gegenzölle auf US-Waren aufzuheben. Die „UN-Woche“ ist die jährliche Generaldebatte der UN-Vollversammlung in New York, bei der jedes Jahr im September Staats- und Regierungschefs aus fast allen 193 Mitgliedstaaten zusammenkommen. Am 25. September wollen sich Erdoğan und US-Präsident Trump dort am Rande der Tagung zu bilateralen Gesprächen treffen. Auf der Agenda stehen Handel – Ziel ist ein Volumen von 100 Milliarden Dollar jährlich – und neue Rüstungsdeals.
Gegenüber Russland bleibt die Türkei wirtschaftlich eng verflochten. Das gilt für Energieimporte, den Tourismus, den Bausektor und für das im Bau befindliche Atomkraftwerk Akkuyu, das von einem russischen Staatskonzern errichtet wird. Politisch folgt Ankara Moskau aber nicht.
Die Türkei verkauft und lizenziert gleichzeitig Bayraktar-Drohnen an die Ukraine. Außerdem schloss sie 2022 nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine die Meerengen Bosporus und Dardanellen für Kriegsschiffe. Grundlage dafür ist die Montreux-Konvention von 1936, die der Türkei die Kontrolle über diese Wasserstraßen gibt. Damit stellte Ankara klar, dass es in zentralen Sicherheitsfragen auf der Seite der NATO steht.
Gleichzeitig werfen westliche Regierungen der Türkei vor, ein wichtiger Umschlagplatz für die Umgehung von Russland-Sanktionen zu sein. Seit 2023 haben die USA mehrfach türkische Firmen bestraft, die solche Geschäfte ermöglicht haben sollen.
Das Bild, das entsteht, ist widersprüchlich: Einerseits pflegt die Türkei enge Wirtschaftsbeziehungen zu Russland. Andererseits setzt sie sicherheitspolitische Signale, die deutlich mit der NATO-Linie übereinstimmen.
IIm Südkaukasus ist die Türkei der engste Partner von Aserbaidschan. Beide Länder bezeichnen ihre Beziehung offiziell als „eine Nation, zwei Staaten“. Damit meinen sie, dass sie kulturell eng verbunden sind und ihre Interessen weitgehend abstimmen.
Die Zusammenarbeit ist vielfältig. Politisch unterstützt Ankara Baku auf internationaler Bühne, etwa in den Vereinten Nationen oder bei Gesprächen mit der Europäischen Union. Wirtschaftlich bauen beide Länder gemeinsame Energieprojekte aus, zum Beispiel die Transanatolische Pipeline (TANAP), die Gas aus Aserbaidschan nach Europa bringt. Militärisch liefert die Türkei Waffen, bildet aserbaidschanische Soldaten aus und führt gemeinsame Manöver durch.
Besonders deutlich zeigte sich die Allianz 2023. Damals beendete Aserbaidschan mit einer Militäroffensive die jahrzehntelange Kontrolle der Armenier über die Region Bergkarabach. Dieses Gebiet liegt völkerrechtlich auf aserbaidschanischem Territorium, war aber seit den 1990er Jahren von armenischen Kräften besetzt und von einer selbsternannten Republik verwaltet worden. Ankara stellte sich dabei klar auf die Seite Bakus und unterstützte diplomatisch und militärisch.
Seitdem wirbt die Türkei gemeinsam mit Aserbaidschan für den sogenannten Mittleren Korridor. Das ist eine Handelsroute von China über Zentralasien und das Kaspische Meer bis in die Türkei und weiter zur Europäischen Union. Ziel ist es, die Abhängigkeit von Transportrouten durch Russland zu verringern und die Türkei als Drehscheibe zwischen Asien und Europa zu etablieren.
Gleichzeitig bleibt das Verhältnis zur Nachbarrepublik Armenien schwierig. Zwar gibt es immer wieder vorsichtige Gespräche über die Öffnung der seit Jahrzehnten geschlossenen Grenze. Doch historische Konflikte, Misstrauen und die ungelöste Frage der Anerkennung von Grenzen belasten die Beziehungen bis heute.

Kleine Gesten Richtung Europa
Parallel lockert die EU eine Regel, die für viele türkische Reisende jahrelang ein Hindernis war. Seit dem 15. Juli 2025 gilt die sogenannte Schengen-Kaskadenregel. Wer zwei Schengenvisa korrekt genutzt hat, kann künftig leichter Mehrjahresvisa erhalten – erst für ein Jahr, dann drei Jahre, schließlich fünf Jahre. Für Geschäftsleute, Studierende oder Familien bedeutet das weniger Bürokratie, für die Politik ist es ein Signal, dass trotz Konflikten Gesprächskanäle offenbleiben.

Gleichzeitig stehen Ankara und Athen in New York zu Gesprächen bereit. Griechenlands Premier Kyriakos Mitsotakis sagte, „Es ist an der Zeit, unsere türkischen Freunde direkt zu bitten, es vom Tisch zu nehmen“, und meinte damit das türkische „casus belli“ aus dem Jahr 1995. Dieses besagt, dass eine Ausweitung der griechischen Hoheitsgewässer in der Ägäis auf zwölf Seemeilen einen Kriegsgrund darstellen würde. Bislang hält Ankara an dieser Haltung fest, doch die Gesprächskanäle sind stabiler als in früheren Krisenjahren.
Im Süden markiert diese Woche eine Premiere nach 13 Jahren Funkstille mit Ägypten: Türkische und ägyptische Seestreitkräfte trainieren erstmals wieder gemeinsam. Die Übung „Friendship Sea“ findet vom 22. bis 26. September 2025 im östlichen Mittelmeer statt. Von türkischer Seite nehmen die Fregatten TCG Oruçreis und TCG Gediz, die Schnellboote TCG İmbat und TCG Bora sowie das U-Boot TCG Gür teil; außerdem sind zwei F-16 im Einsatz. Für Ankara und Kairo ist das ein symbolträchtiger Schritt, der das jahrelang angespannte Verhältnis sichtbar lockert.

Öl als geopolitischer Hebel
Noch ein Hebel liegt im Nordosten: die Pipeline von Kirkuk nach Ceyhan. Nach zwei Jahren Stillstand melden Bagdad, Erbil und Ankara Fortschritte. Am 22. September bestätigen irakische Stellen ein Abkommen mit internationalen Ölkonzernen, um rund 230.000 Barrel pro Tag wieder durch die Leitung zu schicken. Formal fehlen noch letzte Unterschriften, doch Ankara erwartet damit den Neustart einer Einnahmequelle, die auch außenpolitische Bindungen stärkt. Für die kurdische Regionalregierung im Nordirak (KRG) bedeutet das dringend benötigte Einnahmen, für die Türkei neue Transitgebühren und Energiezuflüsse.

Syrienpolitik und Grenzkonflikte
Die Syrien-Politik bleibt für die Türkei die heikelste Baustelle. Seit 2016 ist die türkische Armee dauerhaft im Norden Syriens präsent. Der Grund: Ankara will die eigene Grenze sichern, die kurdische Miliz YPG (Volksverteidigungseinheiten) zurückdrängen und neue Flüchtlingsbewegungen in die Türkei verhindern.
Die Türkei kontrolliert heute mehrere Streifen entlang der syrischen Grenze. Dazu gehören Gebiete rund um Jarabulus, al-Bab, Azaz, Afrin, Tal Abyad und Ras al-Ain. Diese Zonen entstanden durch vier Militäreinsätze der Türkei: „Euphrates Shield“ (2016/17), „Olive Branch“ (2018), „Peace Spring“ (2019) und „Spring Shield“ (2020). Ankara bezeichnet diese Gebiete als Sicherheitszone, meist rund 30 Kilometer tief. Dort betreibt die Türkei Stützpunkte, kontrolliert Straßen und Übergänge und setzt Drohnen sowie Artillerie ein.
In diesen Gebieten gibt es eine enge Anbindung an die Türkei. Viele Geschäfte rechnen in Türkischer Lira. Türkische Mobilfunknetze sind verfügbar. Schulen nutzen Lehrpläne, die an türkische Vorgaben angelehnt sind. Lokale Verwaltungen und Polizeikräfte arbeiten oft mit Unterstützung aus Ankara.
Der Kern des Konflikts liegt in der Rolle der Kurden. Die Türkei sieht die YPG als Teil der seit Mai offiziell aufgelösten kurdischen Arbeiterpartei PKK. Deshalb greift die Türkei Stellungen der YPG immer wieder mit Luftschlägen und Artillerie an. Ziel ist es, die YPG zurückzudrängen oder in syrische Staatsstrukturen zu integrieren.
Gleichzeitig sucht Ankara auch den direkten Kontakt mit der syrischen Regierung. Außenminister Hakan Fidan hat Gespräche über militärische Ausbildung und Beratung erwähnt. Das zeigt: Die Türkei hält sich nicht nur die Option weiterer Militäreinsätze offen, sondern tastet sich auch an vorsichtige Kooperation mit Damaskus heran.
Die Türkei ist damit ein aktiver Teil des syrischen Konflikts. Sie unterstützt Rebellen im Nordwesten, steht dort russischen und syrischen Regierungstruppen gegenüber und gleichzeitig im Nordosten der YPG. Das führt zu ständigen Spannungen. Immer wieder kommt es zu kleineren Scharmützeln. Um Eskalationen zu verhindern, gibt es Absprachen mit Russland und auch mit den USA.
Ein weiterer zentraler Punkt ist die Flüchtlingsfrage. In Nordwest-Syrien, nahe der türkischen Grenze, gibt es riesige Lager für Vertriebene. Das bekannteste ist das Lager Atmeh. Dort leben Hunderttausende Menschen, die aus anderen Landesteilen geflohen sind. Die Versorgung läuft größtenteils über die Grenzübergänge zur Türkei.

Ankara verfolgt dabei eine klare Linie: In der Türkei selbst halten sich mehr als drei Millionen Syrerinnen und Syrer auf. Neue Fluchtbewegungen sollen unbedingt verhindert werden. Deshalb unterstützt Ankara den Bau von Wohnungen in den kontrollierten Gebieten Nordsyriens. Die Regierung spricht von „freiwilliger Rückkehr“. Kritiker warnen jedoch, dass Rückkehrer unter Druck gesetzt werden könnten und in unsichere Verhältnisse zurückkehren.
So ergibt sich ein widersprüchliches Bild: Die Türkei präsentiert sich als Schutzmacht und Grenzsicherer. Gleichzeitig macht sie sich durch ihre Präsenz und ihre Politik im Norden Syriens selbst zu einem festen Teil des ungelösten Konflikts.
Erdoğan, die Kurden und der lange Schatten des Konflikts
Kurden sind die größte Minderheit der Türkei. Schätzungen liegen bei etwa 15 bis 20 Millionen Menschen, also grob 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung. Viele leben im Südosten und Osten: Diyarbakır, Şırnak, Hakkâri, Van, Batman. Sehr viele wohnen auch in Großstädten wie Istanbul, Ankara und Izmir.
Der Konflikt begann in den 1980er Jahren mit dem bewaffneten Kampf der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans). Die PKK forderte erst einen eigenen Staat, später Autonomie und Rechte. Der Staat reagierte mit Polizei und Armee. Der Konflikt kostete zehntausende Menschen das Leben. Im Mai 2025 erklärte die PKK ihre Auflösung und das Ende des bewaffneten Kampfes. Das ist historisch. Es beendet aber nicht automatisch alle Spannungen. Reststrukturen, Splittergruppen und das Umfeld in Syrien bleiben Themen.
Präsident Recep Tayyip Erdoğan stellt in seiner Sprache einen Unterschied her zwischen „meinen kurdischen Brüdern“ und „Terroristen“. Er wirbt um kurdische Wähler, vor allem mit Versprechen für Infrastruktur, Wohnungen, Jobs und Sozialleistungen im Südosten. Gleichzeitig setzt er auf harte Sicherheitspolitik. Das richtet sich gegen Personen und Gruppen, denen Nähe zur PKK oder zu verbündeten Strukturen zugeschrieben wird.
Die wichtigste legale kurdische Partei war lange die HDP (Demokratische Partei der Völker). Wegen Verbotsrisiken und Verfahren arbeiten viele ihrer Politiker heute unter dem Namen DEM-Partei weiter, dem Nachfolger im gleichen politischen Spektrum. Der Staat geht gegen diese Szene hart vor. Bürgermeister kurdischer Städte wurden in den letzten Jahren immer wieder abgesetzt und durch staatliche Verwalter ersetzt. Ermittlungen, Terrorvorwürfe und lange Prozesse prägen das Feld. Prominente Köpfe wie Selahattin Demirtaş sitzen weiter in Haft.

Erdoğans Partei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) kommuniziert diese Linie klar: Sicherheit zuerst. Keine Rückkehr zu Gewalt. Keine Duldung von Strukturen, die als Ableger der PKK gelten. Gleichzeitig präsentiert sie sich als Förderer der Entwicklung in der Region – mit Investitionen, Infrastrukturprojekten, Wohnungsbau und sozialen Programmen. Regierungstreue Medien verstärken diese Linie täglich. Kritische Medien und kurdische Medien haben es schwer, dagegen anzukommen.
Das Klima bleibt polarisiert. Viele Kurden begrüßen das Ende der Waffen und wollen politische Lösungen. Viele misstrauen aber, weil Verbote, Absetzungen und Prozesse weitergehen. Auf der anderen Seite sehen viele türkische Wähler die harte Linie als Garant für Stabilität. So entsteht ein Spannungsfeld: Öffnungserwartungen auf der einen Seite, konservative Sicherheitslogik auf der anderen.
Die Lage 2025 in einem Satz: Die Waffen der PKK sind offiziell verstummt. Der politische Streit geht weiter. Entscheidend wird sein, ob der Staat echte kulturelle und politische Rechte ausbaut.
Migration als Daueraufgabe
Am 17. Juli 2025 waren in der Türkei nach Angaben der AIDA/ECRE-Datenbank 2.605.508 Syrerinnen und Syrer unter „vorübergehendem Schutz“ registriert. Damit bleibt die Türkei der weltweit größte Aufnahmestaat für Menschen aus Syrien. Insgesamt leben sogar über drei Millionen Syrer im Land, wenn man auch andere Schutzformen einrechnet.
Die Verteilung ist ungleich. Besonders viele Flüchtlinge leben in den Provinzen Gaziantep, Şanlıurfa, Hatay und Istanbul. Dort prägen sie das Stadtbild. Ganze Viertel haben sich verändert. Viele Kinder besuchen türkische Schulen, was zu überfüllten Klassen führt. Auch Krankenhäuser stoßen an ihre Grenzen. Auf den Arbeitsmärkten arbeiten zahlreiche Syrer informell und oft schlecht bezahlt. Das führt zu Spannungen mit der einheimischen Bevölkerung.
Die Lage bleibt ein politisches Streitthema. Viele Türken fühlen sich durch die hohe Zahl von Geflüchteten belastet. Nationalistische Parteien machen Stimmung gegen Syrer. Präsident Erdoğan betont dagegen immer wieder, dass die Türkei eine „humanitäre Pflicht“ erfülle – verbindet das aber mit dem Ziel, möglichst viele Syrer in Zukunft wieder nach Nordsyrien zurückzuschicken. Dort finanziert Ankara Wohnungsbauprojekte und Infrastruktur, um „freiwillige Rückkehr“ zu ermöglichen.
Ein zweiter Konflikt spielt sich an der Ägäis ab. Dort versuchen viele Syrer, über die Türkei nach Griechenland und damit in die Europäische Union zu gelangen. Immer wieder berichten Nichtregierungsorganisationen (NGOs), dass Boote von Grenzschützern gewaltsam zurückgedrängt werden. Diese sogenannten „Pushbacks“ sind nach internationalem Recht verboten. Türkische und griechische Behörden bestreiten solche Vorfälle regelmäßig. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex untersucht einzelne Fälle, doch die Verfahren ziehen sich oft über Jahre.
Die Situation ist damit zwiespältig. Die Türkei trägt eine enorme Last, weil sie Millionen Menschen Schutz bietet. Gleichzeitig verschärfen sich innenpolitische Spannungen. Und an den Grenzen zur Europäischen Union bleibt der Streit über den Umgang mit Geflüchteten in vielen Fragen ungelöst.

Energie und Klima im Umbruch
Auch die Energie- und Klimapolitik schreibt neue Kapitel. Die Türkei will bis 2053 klimaneutral werden. Bis 2030 gilt ein Zwischenziel: 41 % weniger Treibhausgase gegenüber einem „Business-as-Usual“-Szenario. Das ist kein absoluter Rückgang, sondern eine Senkung gegenüber einer angenommenen Wachstumslinie. Entscheidend ist deshalb die reale Emissionsentwicklung in den nächsten Jahren.
Die aktuelle Emissionslage ist gemischt. 2023 lagen die gesamten Treibhausgas-Emissionen bei rund 552 Mio. t CO₂-Äquivalent. Das entspricht etwa 6,5 t pro Kopf. Der größte Anteil kommt aus dem Energiesektor: Strom, Wärme, Verkehr, Industrie. Landwirtschaft, Prozessemissionen und Abfall folgen mit deutlich geringeren Anteilen.
Beim Stromsystem laufen zwei Trends gegeneinander. Auf der einen Seite wachsen Wind- und Solarenergie stark. Windenergie und Solarenergie haben 2024 die Stromerzeugung aus inländischer Kohle erstmals überholt. Auf der anderen Seite bleiben Kohle und Erdgas systemrelevant, vor allem in Spitzenlast und in Dürrephasen, wenn Wasserkraft schwächelt. Akkuyu, das erste Atomkraftwerk des Landes, soll 2025 mit Block 1 an den Start gehen und perspektivisch rund 10 % des Strombedarfs decken, sobald alle vier Blöcke laufen.
Die Elektromobilität kommt voran. Elektroautos erreichen zweistellige Marktanteile. 2024 markierte einen Sprung bei Neuzulassungen; 2025 setzt sich der Trend fort. Neben dem heimischen Hersteller Togg prägen Tesla und BYD den Markt. Der Ausbau von Ladeinfrastruktur und die steuerliche Behandlung begünstigen den Wechsel vor allem in Städten. Parallel steigt der elektrische Anteil in Wärme (Wärmepumpen) und Industrieprozessen, wenn auch langsamer als im Verkehr.
Die Kohlenstoffbilanz bleibt der Engpass. Solange Kohle- und Gaskraftwerke viel Strom liefern, fällt die CO₂-Intensität des Systems nur langsam. Ein schnellerer Ausbau der Netze, flexible Gaskraftwerke mit geringerer Laufzeit, Speicher und Lastmanagement wären nötig, um Wind und Solar stärker ins System zu integrieren und importierte fossile Brennstoffe zu verdrängen. Energieeffizienz in Gebäuden und Industrie bleibt ein zweiter Hebel, der kurzfristig Emissionen senken kann.
Auch die Klimarisiken nehmen zu. Die Waldbrände im Sommer 2025 waren außergewöhnlich hart. Hitze, Trockenheit und Wind trieben die Feuer, besonders an der Ägäis und im Mittelmeerraum. Evakuierungen, gesundheitliche Belastungen und Schäden an Infrastruktur zeigen, wie teuer Klimafolgen bereits sind. Prävention, Brandschutz und ein klimaresilienter Forstumbau werden zum Sicherheits- und Haushaltsthema.

Staatliche Macht gegen jede Kritik
Die AKP-Regierung übt seit Jahren zunehmenden Druck auf Opposition und Zivilgesellschaft aus. Demonstrationen werden häufiger verboten oder stark eingeschränkt. Polizei setzt Tränengas und Gummigeschosse ein – besonders bei Kundgebungen gegen den Staat. Viele Protestierende werden in Gewahrsam genommen, darunter auch Studierende und Lehrende.
Die Justiz wird als politisches Instrument verwendet. Oppositionelle Politiker, Bürgermeister und Parteifunktionäre stehen unter Verfahren mit Terror- oder Korruptionsvorwürfen. Einige wurden in Untersuchungshaft gesetzt, bevor ein ordentlicher Prozess stattfand. Es gibt Fälle, in denen Gerichte Entscheidungen treffen, die den Interessen der Regierung dienen. Richter und Staatsanwälte stehen unter Einfluss politischer Macht – durch Ernennungen, Suspendierungen oder Hinweise von Exekutive und Innenministerium.
Die Medienfreiheit schrumpft. Fernsehsender und Zeitungen, die kritisch berichten, erleben Zensur, Entzug von Sendelizenz oder Untersuchungen wegen „Terrorisierung“ oder „Propaganda“. Journalisten werden verhaftet, Korrespondenten ausgewiesen. Onlineplattformen und soziale Medienkonten werden blockiert oder gesperrt, Nutzer wegen „Verleumdung“ oder „Beleidigung des Präsidenten“ angeklagt.
Rechte von Gewerkschaften, Schulen und Universitäten sind betroffen. Lehrergewerkschaften und Studierende werden bei Protesten überwacht oder bestraft. Universitätsverwaltungen werden unter Druck gesetzt, kritische Professor:innen zu entlassen oder Mund- und Gängelungspolitik durchzusetzen.
Menschenrechtsorganisationen bemängeln auch die Misshandlungen in Gewahrsam. Inhaftierte berichten von überfüllten Zellen, mangelhafter medizinischer Versorgung und schlechter Hygiene. Verfahren dauern oft lange, Rechtsmittel werden verzögert oder blockiert.
Trotz internationaler Kritik verändert sich wenig grundlegend. Die Struktur bleibt: Macht konzentriert in der Präsidialbürokratie, Kontrolle über Justiz und Medien und ein Klima, in dem Opposition ihr Wirken stets mit Risiko verbindet. Reformversprechen bestehen, etwa in Verfassungsfragen oder Justizreformen, doch ihre Umsetzung bleibt schwach. Große Schritte, die Vertrauen und Rechtsstaat wirklich stärken könnten, lassen weiterhin auf sich warten.
Was bleibt: Erdoğan lässt die Türkei auf der Stelle treten
Und wieder zurück nach Istanbul, wo am Abend die Lichter an den Bosporus-Brücken hochfahren und die Stadt ihre eigenen Geräusche schluckt. Der Blick nach vorn zeigt: Viele Stellschrauben liegen bereit, doch sie greifen nur langsam. Solange Präsident Recep Tayyip Erdoğan an der Macht bleibt, wird vieles von seiner persönlichen Linie abhängen – und die ist geprägt von Machtkalkül, Kontrolle und einer Politik, die eher auf kurzfristige Balanceakte als auf tiefgreifende Reformen setzt. Kleine Veränderungen sind möglich, doch große Umbrüche bleiben unwahrscheinlich, solange sich die politischen Strukturen nicht grundlegend verschieben. So könnte die Türkei in einer dauerhaften Zwischenlage verharren: genug Bewegung, um Stillstand zu vermeiden, aber nicht genug, um wirklich Neues zu schaffen.
Quellenverzeichnis
- Amepres Lokaljournalisten-Netzwerk Gaziantep
- Anadolu Ajansı (AA): Berichte zu Akkuyu, Waldbränden 2025
- AP News: Meldungen zu „Friendship Sea“-Übung, Pressefreiheit, Journalistenfestnahmen
- AIDA/ECRE: Länderbericht Türkei, 29.07.2025
- CBRT (Central Bank of the Republic of Türkiye): MPC-Decision 11.09.2025, MPC-Summary 18.09.2025
- EU-Kommission (DG HOME, EEAS): Mitteilungen zur Schengen-Kaskadenregel, 15./29.07.2025
- EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte): Urteile „Demirtaş v. Turkey (No. 2)“ (2020), „Kavala v. Türkiye“ (2022)
- Europarat: Umsetzungsberichte, 2025
- HRW (Human Rights Watch): Stellungnahmen zur Inhaftierung von İmamoğlu, Kavala, Demirtaş
- Reporter ohne Grenzen (RSF): Pressefreiheitsindex 2025
- Reuters: Meldungen zu İmamoğlu, Inflation, CBRT, MTP, Pipeline Kirkuk–Ceyhan, Israel-Handelssperre, Griechenland-Dialog, SDF/YPG
- TÜİK (Türkisches Statistikamt): Verbraucherpreisindex August 2025

