Syrien Titelbild 2025

Syrien im September 2025: Zwischen neuem Mut, alten Verlusten und israelichen Raketen

Ein AMEPRES-Lizenzartikel von Jürgen Dirrigl

Am Morgen, an dem die Lastwagen vor der Siedlung al-Somaria halten, liegt der Staub wie feines Mehl auf den Gehwegen. Männer in Uniform gehen von Tür zu Tür. Mit schnellen Bewegungen sprühen sie Symbole auf die Häuserwände: ein „X“ für jene, die bleiben dürfen, ein „O“ für die, die gehen müssen. Die Bewohner stehen daneben, stumm, die Augen auf die Zeichen gerichtet. Wer ein „O“ an seiner Wand entdeckt, weiß, dass er innerhalb von Stunden sein Zuhause verliert.

„Es ist wie ein Würfelspiel mit unserem Leben“, sagt eine Frau, die mit ihrem Kind vor der Haustür wartet. „Gestern hatten wir noch ein Zuhause, heute nicht mehr.“ Ein älterer Mann hält einen zerknitterten Vertrag hoch und ruft den Soldaten hinterher: „Wir haben bezahlt, wir haben gebaut, warum reicht das nicht?“

Die neue Übergangsregierung in Damaskus rechtfertigt die Aktion als Teil einer Kampagne gegen Korruption im Wohnungswesen. Viele Gebäude seien in den Jahren des Assad-Regimes illegal entstanden, sagen sie – errichtet durch Bestechung oder ohne klare Besitzurkunden. Man müsse jetzt Ordnung schaffen, die Stadt neu planen, und angeblich auch Platz machen für ein geplantes U-Bahn-Projekt.

Syrien Vertreibung 2025

Für die Bewohner klingt das nach schönen Worten. In Wahrheit erleben sie eine zweite Vertreibung. „Wir sind schon einmal geflohen, als unser Dorf bombardiert wurde“, erzählt eine Mutter. „Wir dachten, hier könnten wir neu anfangen. Jetzt verlieren wir wieder alles.“


Ein Land im Übergang – und im Alarmzustand

Neun Monate nach dem Sturz von Bashar al-Assad ringt das Land um Ordnung. In Ministerien und Räten sortieren Beamte ihre neuen Kompetenzen, in Provinzen verhandeln Stammesführer mit Sicherheitskräften, im Ausland eröffnen sich neue Kanäle. In Damaskus empfängt der Interimspräsident Ahmad al-Sharaa einen hochrangigen amerikanischen Besucher: Admiral Brad Cooper, Oberbefehlshaber des US-Militärkommandos für den Nahen Osten, kurz CENTCOM. Seine Botschaft ist klar: Zusammenarbeit im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) und Integration bewaffneter Gruppen in die neuen staatlichen Strukturen.

Syrien Machtarchitektur
Grafik: AMEPRES

Zur selben Stunde sirren im Westen des Landes die Sirenen. Rauchfahnen steigen bei Homs, Latakia und Palmyra auf, Straßen werden kurzfristig gesperrt, Flüge geprüft oder verschoben. Für Anwohner ist das ein weiteres Zeichen, dass der Himmel unruhig bleibt und die Nachtplanung immer einen Plan B braucht.

Aber der Reihe nach…

Syrien Luftangriffe September 2025
Grafik: AMEPRES

Süden: Suwayda zwischen Sirenen und Schulbeginn

Im Süden Syriens, in der Provinz Suwayda, weicht die sommerliche Ruhe einem nervösen Takt aus Sirenen und Eilmeldungen. Was lange ein vergleichsweise ruhiges Gebiet war, gerät plötzlich ins Zentrum der Gewalt. Dort lebt eine große Gemeinschaft der Drusen, einer religiösen Minderheit, die traditionell versucht hat, sich aus dem Bürgerkrieg herauszuhalten. Doch in den vergangenen Monaten eskalierte ein alter Konflikt zwischen Drusen-Gruppen und nomadischen Beduinen, die ebenfalls in der Region leben. Es geht um Landrechte, Schmuggelrouten und politische Loyalitäten, die durch den Machtwechsel in Damaskus neu verhandelt werden.

Syrien Drusen Beduinen 2025
Foto: AMEPRES/Fares Al-Haddad – Blutige Eskalation: Gewalt zwischen Drusen und Beduinen

Als Milizen beider Seiten bewaffnet aufeinandertreffen, verwandeln sich Nachbarschaftsstreitigkeiten in offene Kämpfe. Granaten schlagen in Dörfer ein, Familien packen in Eile das Nötigste und suchen Schutz. Viele ziehen in Schulen, die eigentlich schon beschädigt sind und kaum Platz bieten. Doch die Klassenzimmer sind für viele die letzte Zuflucht. Noch bevor das neue Schuljahr beginnt, versucht die UN, die Menschen in andere Unterkünfte zu bringen – nicht in Zeltlager, die sie aus den Jahren des Krieges kennen, sondern in öffentliche Gebäude und Wohnungen, deren Mieten Hilfsorganisationen bezahlen sollen.

„Wir wollen nicht in ein Camp“, ruft eine Frau, die vor einem Schulgebäude wartet. „Wir wollen einfach nur, dass unsere Kinder wieder lernen können.“ Auf dem zentralen Platz der Stadt ruft ein Mann „Selbstbestimmung“, die Menge antwortet mit Sprechchören. Die politischen Folgen lassen nicht auf sich warten: Eine geplante Wahl wird verschoben, weil die Gewalt zu groß ist. Ein Waffenstillstand wird verhandelt, bricht, wird neu ausgehandelt – und die Menschen wissen, dass er jederzeit wieder enden kann.

Syrien Gewaltvorfälle 2025
Grafik: AMEPRES

Nordosten: ein offener Vertrag

Im Nordosten Syriens zeigt sich ein ganz eigenes Bild. Hier kontrollieren die Syrian Democratic Forces (SDF) – ein kurdisch-arabisches Militärbündnis, das während des Krieges die Hauptlast im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) trug – gemeinsam mit der Autonomous Administration of North and East Syria (AANES) die Region. Die AANES ist eine Art Selbstverwaltung, die neben Sicherheitskräften auch Schulen, Gerichte und Verwaltungen organisiert. Sie entstand in den Jahren, als das Assad-Regime die Kontrolle dort weitgehend verloren hatte, und hat sich zu einer politischen Realität entwickelt, die Millionen Menschen betrifft.

Die Lage ist jedoch kompliziert. Einerseits haben die SDF und die AANES ein Interesse daran, ihre Selbstverwaltung zu bewahren – mit eigener Sprache, eigenen Institutionen und einem gewissen Maß an Unabhängigkeit. Andererseits will die neue Übergangsregierung in Damaskus das Land wieder zusammenführen und betont, dass Syrien nicht dauerhaft in getrennte Zonen zerfallen dürfe. Deshalb wird derzeit verhandelt, wie die Integration aussehen könnte: Sollen die SDF-Kämpfer Teil der nationalen Armee werden? Sollen die Gerichte in den Nordostprovinzen nach den Gesetzen von Damaskus urteilen oder eigene Kompetenzen behalten? Und wie werden die Einnahmen aus Öl, das im Nordosten in großen Mengen gefördert wird, verteilt?

Syrien Sdf 2025
Foto: AMEPRES/Khaled Suleiman – SDF erlässt Generalamnestie in Deir ez-Zor

Erschwert wird die Situation dadurch, dass externe Mächte ebenfalls Einfluss nehmen. Die USA unterstützen die SDF noch immer militärisch, weil sie im Kampf gegen IS-Zellen als unverzichtbar gelten. Die Türkei hingegen sieht in den kurdischen Strukturen der SDF eine Bedrohung und greift regelmäßig Ziele im Nordosten an. Zwischen diesen Fronten versucht Damaskus, mit der AANES einen „offenen Vertrag“ auszuhandeln: genug Autonomie, damit die Kurden und ihre Partner bleiben, genug Integration, damit Syrien offiziell wieder geeint erscheint.

Für die Bevölkerung bedeutet das Unsicherheit. Wer morgens den Checkpoint passiert, weiß nie, ob dort ein SDF-Kämpfer, ein syrischer Soldat oder vielleicht ein gemischtes Team steht. Jeder neue Beschluss in Damaskus – ob zur Verteilung von Steuern oder zur Frage der Unterrichtssprache – hat direkten Einfluss auf den Alltag. Und jede Wendung in den Gesprächen könnte den fragilen Ausgleich zerstören.

Syrien Sdf Aanes 2025
Grafik: AMEPRES

Die rote Linie am Himmel

Wenn in Syrien Nacht wird, ziehen manchmal nur Lichtbahnen über den Himmel – israelische Präzisionsraketen, abgefeuert aus dem libanesischen Luftraum, vom Mittelmeer oder vom Golan. Dahinter steht eine klare Strategie: Israel will den militärischen Ausbau Irans in Syrien stoppen, vor allem die Aktivitäten der Iranischen Revolutionsgarden (IRGC) und der libanesischen Hisbollah. Deshalb werden Depots, Werkstätten, Trainingsgelände und Luftabwehrstellungen angegriffen, die den Transfer von Waffen und Präzisionsbauteilen Richtung Libanon ermöglichen oder schützen.

Jüngste Ziele passen in dieses Muster: Homs mit gemeldeten Lagern und Stellungen, Latakia als Küstenraum mit Hafen und nahegelegenen Stützpunkten, Palmyra mit dem oft betroffenen Luftwaffenkomplex T-4 – Knotenpunkte entlang der sogenannten Landbrücke (Iran → Irak → Syrien → Libanon). Bei Hinweisen auf kritische Luftfracht geraten auch die Flughäfen Damaskus oder Aleppo ins Visier.

Syrien Israelischer Luftangriff Damaskus 2025
Foto: AMEPRES/Tarek Mansour – Militärhauptquartier in Damaskus von Israel angegriffen

Die Übergangsregierung ist nicht das Ziel; getroffen werden iranische Proxys auf syrischem Boden. Trotzdem reagiert die syrische Luftabwehr, oft mit älteren Systemen – und Trümmerabgänge oder Abfangaktionen können zivile Schäden verursachen. Für die Menschen heißt das: nächtliche Sirenen, Straßensperren, Flugausfälle, gelegentlich Stromunterbrechungen und die ständige Anspannung, dass eine ruhige Nacht plötzlich laut werden kann. Parallel agieren die USA im Osten Syriens unabhängig: gegen IS-Zellen und – nach Angriffen auf eigene Stellungen – gegen Iran-nahe Milizen.

Wenn in Damaskus von der „Wiederherstellung früherer Sicherheitsabsprachen“ die Rede ist, geht es um Trennlinien und Regeln (etwa am Golan), die Zwischenfälle verhindern sollen. Solange jedoch iranische Lieferketten durch Syrien führen und Israel darin eine akute Bedrohung sieht, bleibt die rote Linie am Himmel: die wiederkehrende Warnung, dass bestimmte Lieferungen hier enden sollen.

Syrien Israelische luftangriffe 2024 2025
Grafik: AMEPRES

Wirtschaft: zartes Plus unter schwerem Himmel

Die Weltbank prognostiziert ein dünnes Wachstum. Das Land atmet minimal ein, während Strom, Wasser und Weizen knapp bleiben. Immerhin sind alte Rückstände bei einer internationalen Entwicklungsfazilität beglichen – ein Türöffner für technische Programme. In Brüssel endet eine jahrelange Sanktionspolitik in ihrer bisherigen Form. In Tartus verlässt erstmals seit vielen Jahren wieder Rohöl offiziell das Land – ein Symbol, aber auch ein Compliance-Test.


Schattenwirtschaft: die unsichtbaren Karawanen

Der Handel mit Captagon, einer synthetischen Droge, bleibt ein stilles Geschäft. Schmuggelrouten führen durch Wadis, über Grenzen nach Jordanien und Irak, weiter bis in die Golfstaaten. Jordanische Kräfte melden regelmäßig Abfangaktionen, doch die Wege verschieben sich elastisch. Eine gemeinsame Grenzkommission soll Ordnung bringen, doch sie kämpft gegen eine Industrie, die schneller wächst als jede Kontrolle.

Syrien Captagon Mesh Routen 2025
Grafik: AMEPRES

Humanitär: der lange Schatten der Not

Die humanitäre Lage bleibt widersprüchlich: mehr Planbarkeit beim Zugang, aber anhaltende Not und zu wenig Geld. Für den Alltag der Menschen zählen vier Dinge: Sicherheit, Einkommen, Grundversorgung und Zugang zu Hilfe – und die fallen je nach Region sehr unterschiedlich aus.

Wo es vergleichsweise besser ist:
In den Küstenprovinzen Latakia und Tartus sowie in Teilen des Zentrums von Damaskus sind Strom- und Wasserversorgung relativ stabil, Märkte funktionieren, Schulen und Gesundheitsstationen sind überwiegend geöffnet. Auch in Aleppo-Stadt hat sich die Grundversorgung verbessert, wenngleich die Stromzeiten oft rationiert sind. In einigen Städten des Nordostens (unter Verwaltung der AANES) sorgen lokale Haushaltspläne, kommunale Wasserwerke und Kliniken für verlässliche Basisdienste – besonders an großen Verkehrsachsen.

Wo es kritisch bleibt:
Der Nordwesten (v. a. Teile von Idlib und des nördlichen Aleppo) ist überfüllt durch langjährige Vertreibungen. Viele Menschen leben in Zeltansiedlungen oder provisorischen Unterkünften, Straßen und Abwassersysteme sind überlastet, Trinkwasser muss häufig per Tankwagen geliefert werden. Der Süden (Suwayda und Grenzräume zu Daraa/Jordanien) leidet unter Gewaltspitzen, Preisschocks und unterbrochenen Lieferketten; Schulen werden als Notquartiere genutzt. In den Wüstengebieten (Zentral- und Ostsyrien) stören IS-Zellen wiederholt Verkehrswege und Versorgungsleitungen.

Syrien Hilfe 2025
Foto: AMEPRES/Archiv – Hilfsorganisationen haben jetzt Zugang zu Land und Menschen

Lager und Unterkünfte:
Es gibt weiterhin große Lager und Camp-ähnliche Siedlungen – vor allem im Nordwesten (z. B. entlang der Grenze zur Türkei) und im Nordosten. Dazu kommen kontrollierte Einrichtungen wie al-Hol und al-Roj im Nordosten, in denen Zehntausende – darunter viele Kinder – leben. Viele andere Binnenvertriebene wohnen außerhalb von Lagern in informellen Siedlungen, leerstehenden Gebäuden oder bei Gastfamilien.

Gesundheit, Bildung, Lebenshaltung:
Kliniken arbeiten, aber es fehlt an Medikamenten, Fachpersonal und Betriebsmitteln. Schulen sind vielerorts offen, doch Raummangel (durch Nutzung als Unterkünfte) und Lehrerknappheit bremsen den Unterricht. Lebensmittelpreise schwanken stark; Löhne halten nicht Schritt. Familien reduzieren Mahlzeiten, verschulden sich oder schicken Jugendliche früher arbeiten. Schutzbedarfe – insbesondere für Frauen, Kinder und Ältere – bleiben hoch.

Zugang und Finanzen:
Hilfe erreicht das Land über Grenzübergänge (Türkei, Jordanien, Irak) und über Flughäfen (u. a. Damaskus), doch Genehmigungen, Sicherheitslagen und Sanktions-Compliance bremsen die Umsetzung. Der Finanzierungsbedarf der Hilfspläne ist nur teilweise gedeckt; Projekte müssen priorisiert, Standorte zusammengelegt oder Leistungen gekürzt werden.

Syrien Humanitäre Lage 2025
Grafik: AMEPRES

Politik: Verhandlungen im Spiegel

Zwischen al-Somaria und Suwayda spannt sich ein politischer Bogen, der von Eigentumsrecht bis Übergangsjustiz reicht. Der Staat verweist auf Antikorruption, Juristen auf Transparenz und Rechtsmittel. Die ökonomische Öffnung bietet Anreize, die Sicherheitslage setzt Grenzen. In den Gängen der Ministerien nennt man das Ganze ein Fenster – doch es öffnet sich auf einen Hof voller Bedingungen.

Syrien Funding Gap 2025
Grafik: AMEPRES

Ein fragiles Morgen

Syrien steht am Rand zwischen Neuordnung und Nachwehen des Krieges. Politisch trägt die Übergangsregierung den Anspruch, das Land wieder zusammenzuführen; vor Ort zählt, ob Dienste verlässlich werden. Ökonomisch bleibt der Alltag von Preisen, Stromplänen und Lieferketten bestimmt, auch wenn erste Türen aufgehen. Humanitär entscheidet der Wohnort über Chancen: Manche Städte normalisieren sich, andere ringen noch um das Nötigste.

Für die Menschen zählt weniger ein großes Versprechen, sondern kleine Sicherheiten: ein funktionierender Wasserhahn, ein Busfahrplan, eine ruhige Nacht. Dort, wo solche Dinge zusammenfallen, kann aus dem fragilen Morgen wieder ein normaler Tag werden.

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