Afghanistan 2025 Titel
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Afghanistan im September 2025: Rückkehr, Restriktionen und fragile Stabilität im Alltag

Lizenzartikel von Jürgen Dirrigl – Titelbild und alle Bilder im Artikel: AMEPRES
Der Mond hängt wie ein dünner Silberfaden über einem kleinen Dorf in den Bergen der Provinz Kunar, unweit der Grenze zu Pakistan. Ziegen treten über losen Schiefer, ein Dieselgenerator röchelt, und im Hof eines Lehmhauses zählt ein Vater die Risse, die sich seit dem Erdbeben Ende August durch die Wand gefressen haben. Drinnen schläft seine Tochter neben einem Schulranzen, in dem längst keine Schulbücher mehr liegen.

Aus dem Radio dringen Nachrichten von Grenzen, die sich schließen, von Preisen, die steigen, und von Verträgen, die weit weg in Kabul und Moskau unterschrieben werden. Hier, zwischen Kiefern und kaltem Wind, wird Fortschritt in Körben Mehl und in Stunden Licht gemessen.

In der Stille zwischen zwei Generatorstößen hört man, was seit 2021 in vielen Tälern gleich geblieben ist und was sich verändert hat. Die Frontlinien, die früher das Land zerschnitten, sind weg. Konvois der Armee gibt es nicht mehr, und nächtliche Feuergefechte sind seltener. Das nennen manche Frieden. Andere nennen es „die Abwesenheit von Krieg“.

In diesem Dorf denken die Älteren an Zeiten, in denen eine Fahrt zur Distriktstadt Asadabad einem Würfelspiel glich. Heute erreicht man den Basar dort, wenn der Pass nicht zu verschneit ist.

Die Realität ist widersprüchlich: weniger Gefechte, doch an deren Stelle Regeln und Verbote, die tief in den Alltag greifen.

Machtzentren der Taliban, Außenkontakte, Anerkennung

Die Taliban-Führung nennt ihren Staat „Islamisches Emirat Afghanistan“ (IEA); die Minister gelten offiziell als „amtierend“, und neue Regeln werden per Dekret verkündet.

Die politische Macht konzentriert sich in zwei Zentren: Kandahar, wo der oberste Führer und sein enger Kreis Entscheidungen treffen, und Kabul, wo die Ministerien den Alltag verwalten. Der oberste Führer Hibatullah Akhundzada regiert per Dekret. Die Regierungsmannschaft – vom amtierenden Regierungschef Mullah Hassan Akhund bis zu den Vizechefs – exekutiert.

China entsandte bereits 2023 einen Botschafter nach Kabul, ohne die Taliban-Regierung offiziell anzuerkennen. Russland ging im Juli 2025 weiter und erkannte sie als erster Staat offiziell an. Seitdem steht die Frage im Raum, ob andere Länder diesem Schritt folgen werden.„Die Normalisierung der Beziehungen hängt davon ab, welche Schritte die De-facto-Behörden gehen“, mahnt UN-Sondergesandte Roza Otunbajewa im Sicherheitsrat.

Gleichzeitig bewirbt die Regierung Projekte wie den Kupfertagebau Mes Aynak: Der Vertrag mit dem chinesischen Konsortium wurde im August 2025 um 15 Jahre verlängert – als Signal an Investoren. Die Verwaltung verkauft das als Öffnung, Kritiker nennen es die Verlängerung eines alten Versprechens unter neuen Bedingungen.

Alltag ohne Front, Regeln mit Folgen: Warum viele trotzdem zurückkehren

Zwischen den Bergen und den Grenzstationen rollt eine andere Geschichte heran: die Massenrückkehr. Seit Jahresbeginn 2025 sind (Stand 11. September) 2.680.241 Menschen nach Afghanistan zurückgekehrt.

Eine Frge stellt sich: Warum kommen so viele, wenn das Leben im Land so eingeschränkt ist? Für viele Familien geht es nicht darum, zwischen einer guten und einer schlechten Option zu wählen, sondern zwischen schwierig und noch schwieriger. In Iran führten Razzien, ablaufende Fristen und Abschiebungen im Sommer 2025 dazu, dass täglich ganze Buskolonnen voller Afghanen an die Grenzübergänge gebracht wurden. In Pakistan verschärften die Behörden 2025 ihre Regeln für afghanische Flüchtlinge. Wer keine gültigen Papiere vorlegen konnte, musste mit Festnahmen rechnen. Andere kommen, weil sich Sicherheit anders anfühlt als früher: weniger IEDs, weniger Gefechte, berechenbarere Wege.

Für Hilfsorganisationen ist es gleichzeitig schwer, die Rückkehrer zu versorgen, weil Frauen in vielen Provinzen nicht mehr arbeiten dürfen. Genau darauf wies Arafat Jamal, UNHCR-Vertreter für Afghanistan, am 12. September in Genf hin: „Wir können schlicht nicht arbeiten, wenn Frauen vom Einsatz ausgeschlossen sind.“ Damit machte er deutlich, dass Hilfe ohne weibliches Personal gerade für Frauen und Kinder kaum möglich ist.

Zwischen dieser Realität und dem politischen Druck aus den Nachbarstaaten müssen Familien entscheiden, ob sie zurückkehren – auch wenn sie in Afghanistan kaum Perspektiven erwarten.

Rückkehrer Afghanistan 2025
Grafik: AMEPRES

Frauen, Arbeit, Schule: Die entscheidenden Hebel

In der Stadt sagt eine Literaturstudentin, die nie ihr Examen ablegen durfte, sie habe gelernt, „leise zu lesen“. Das ist die poetische Umschreibung für einen nüchternen Befund: Afghanistan bleibt der einzige Staat, in dem Mädchen jenseits der sechsten Klasse und Frauen an Universitäten nicht regulär lernen dürfen.

Rund 1,4 Mio. Mädchen sind dauerhaft ausgeschlossen. Für junge Frauen ist die Tür in die Zukunft fast viermal häufiger verschlossen als für junge Männer: 78 % der 15- bis 24-Jährigen sind „NEET“ – weder in Ausbildung, noch in Beschäftigung oder Training.

Die Folge ist nicht nur eine individuelle: Ein Land, das die Hälfte seiner Begabungen aus dem Raum der Möglichkeiten schiebt, drosselt seine eigene Erholung. „Ihre Rechte zu lernen und zu arbeiten wiederherzustellen, würde ihr Leben, ihre Gemeinschaften und die Zukunft Afghanistans zum Besseren verwandeln“, sagt Otunbajewa – ein Satz, der in Klassenzimmern wie in Ministerien gilt.

Anfang September verschärften die Behörden die Praxis weiter: Frauen, die für UN-Organisationen arbeiten, werden an mehreren Orten am Betreten der Büros gehindert. Kurz darauf schließt die UN-Flüchtlingshilfe acht Unterstützungszentren, weil ohne Mitarbeiterinnen keine schutzsensible Hilfe möglich ist. Und doch: In Werkstätten, Küchen, Hofräumen arbeiten Frauen weiter – in Nischen, die aus ökonomischer Not entstanden sind.

Frauen Afghanistan 2025
Grafik: AMEPRES

Ein Feind mit langen Armen

Im Innern des Landes sind große Gefechte selten geworden, doch Anschläge gibt es weiterhin. Sie richten sich oft gegen Städte oder religiöse Minderheiten. Hinter vielen dieser Angriffe steht der Islamische Staat Provinz Khorasan (ISKP) – ein regionaler Ableger der Terrormiliz „Islamischer Staat“. Die Gruppe hat keine Kontrolle über Gebiete, aber sie verübt Bomben- und Selbstmordanschläge, um Aufmerksamkeit zu erzeugen und Stärke zu zeigen. Im Februar 2025 explodierte in Kabul eine Bombe nahe eines Ministeriums, im Norden starben bei einem Selbstmordanschlag vor einer Bank mindestens fünf Menschen.

Auch außerhalb Afghanistans hat der (ISKP) Anschläge verübt. Am 22. März 2024 starben bei dem Angriff auf die Crocus City Hall in Moskau 149 Menschen. Im August 2024 vereitelten Sicherheitsbehörden in Wien einen Anschlagsplan, und am 15. Februar 2025 tötete ein Angreifer in Villach in Österreich einen Menschen mit einem Messer, nachdem er zuvor öffentlich seine Unterstützung für den „Islamischen Staat“ erklärt hatte.

Die Taliban-Führung betont, sie habe den ISKP weitgehend zerschlagen. Doch die Anschläge im Ausland zeigen, dass die Gruppe weiterhin aktiv ist und nicht nur ein innerafghanisches Problem darstellt.

Anschlages Crocus City Hall 2024
Gedenkstätte für die Opfer des Anschlages auf die Crocus City Hall am 24. März 2024.

Wirtschaft: Zahlen und kein gutes Bauchgefühl

Auf dem Basar im Distriktzentrum kostet das Mehl weniger als im Krisenjahr 2022, aber auch die Geldbörsen sind leerer.

Nach Angaben der Weltbank hat sich das Handelsdefizit Afghanistans 2024 deutlich vergrößert: Es stieg von rund 6,3 Milliarden US-Dollar im Jahr 2023 auf 9,4 Milliarden US-Dollar im Jahr 2024. Der Grund ist, dass das Land sehr viel mehr Waren einführt als ausführt. 2024 beliefen sich die Importe auf etwa 10,7 Milliarden US-Dollar, während die Exporte nur 1,3 Milliarden US-Dollar ausmachten. Besonders sichtbar wird dieser Trend bei den Rohstoffen: Die Einnahmen aus dem Kohleexport, die 2022 noch fast eine halbe Milliarde US-Dollar eingebracht hatten, brachen bis 2024 auf gut 100 Millionen US-Dollar ein. Dafür legten andere Produkte wie Textilien etwas zu – sie erreichten 2024 rund 212 Millionen US-Dollar. Trotz solcher Zuwächse bleibt die Exportbasis sehr schmal, und das macht die afghanische Wirtschaft extrem abhängig von Importen.

Für die Menschen zählen andere Kennziffern: Stromstunden pro Nacht, Preis pro Sack Mehl, die Frage, ob der Händler noch anschreibt. Wo internationale Hilfe ausfällt – die große Hilfsplanung ist 2025 bis Mitte September nur zu 28,8 % finanziert –, ersetzt kein Nachbarschaftsnetzwerk den Umfang, den internationale Programme einst hatten.

Wirtschaft Afghanistan Entwicklung
Grafik: AMEPRES

Mohn: Vom Versorger zum knappen Gut – wie Verbote Märkte verschieben

Seit dem von den Taliban im April 2022 verhängten Anbauverbot für Schlafmohn sind die Anbauflächen stark zurückgegangen. Weil dadurch weniger Opium produziert wird, sind die Preise zwar gestiegen, aber nur jene verdienen daran, die das Risiko eingehen und heimlich weiter anbauen. Für die große Mehrheit der Bauern bedeutet das Verbot Einkommensverluste, denn Ersatzkulturen wie Weizen oder Safran bringen deutlich weniger ein. Viele Familien haben dadurch Schulden, können Saatgut nicht mehr kaufen oder müssen ihre Kinder von der Schule nehmen, weil sie auf den Feldern gebraucht werden. Das Problem ist: Die Märkte für legale Produkte sind schwach, während das frühere Haupteinkommen weggebrochen ist.

Opium war 2022 mit 233.000 ha Anbaufläche das Hauptgeschäft weiter Landstriche. Nach dem Edikt von 2022 bricht die Fläche bis 2024 auf 12.800 ha ein. Die Produktion fiel 2024 auf 433 t und bleibt damit ein Bruchteil der ehemaligen Mengen.

Die Marktlandkarte verschiebt sich: Ersatzstoffe gewinnen an Anteil, Methamphetamin dominiert, regionale Routen werden durch schärfere Grenzkontrollen neu zugeschnitten. Auch die Nachbarländer reagieren auf das Opiumverbot. Der Iran hat die Kontrollen an seiner Grenze verschärft, um Schmuggel zu unterbinden. Pakistan geht ähnlich vor und verfolgt Händler und Transporteure strenger als früher. In Europa wiederum beobachten Drogenfahnder, dass das geringere Angebot an Heroin aus Afghanistan teilweise durch synthetische Drogen wie Methamphetamin ersetzt wird.

Für die Bauern in den afghanischen Dörfern ist das ein ferner Markt. Sie schauen weniger auf den globalen Drogenhandel, sondern auf den Preis für Weizen oder Reis. Trotzdem wissen selbst kleine Händler, dass der Opiumpreis im Hintergrund immer eine Rolle spielt – er hat über Jahre bestimmt, wie viel Geld überhaupt ins Tal geflossen ist.

Opiumfelder Afghanistan
Schon seit 2008 versucht die UN die Schlafmohnfelder einzudämmen.

Erdbeben in der Nacht: Natur als Gegner, Winter als Deadline

Am 31. August 2025 um 23:47 Uhr erschütterte ein Erdbeben der Stärke 6,0 die östlichen Provinzen Kunar, Nangarhar und Laghman. Mindestens 2.200 Menschen kamen dabei ums Leben, mehr als 3.600 wurden verletzt. Über 6.800 Häuser stürzten ein oder wurden schwer beschädigt, und fast eine halbe Million Menschen – rund 498.000 – benötigen seitdem dringend medizinische Versorgung. Bis zum 7. September registrierten die Behörden mindestens 17 Nachbeben, das stärkste mit einer Stärke von 6,2. Die Vereinten Nationen baten um Hilfsgelder in Höhe von etwa 140 Millionen US-Dollar, um die dringendsten Bedürfnisse bis zum Winter zu decken. In den Dörfern sind die Prioritäten einfach: Schaufeln, Planen, Zelte, ein Dach vor dem ersten Schnee.

Die Hilfsorganisationen stoßen dabei auf eine besondere Hürde: In vielen Provinzen dürfen afghanische Frauen nicht mehr für internationale Organisationen arbeiten. Ohne weibliche Mitarbeiterinnen ist es aber kaum möglich, Frauen und Mädchen medizinisch zu versorgen oder zu betreuen. Das bedeutet, dass Hilfsgüter zwar ins Land kommen, die konkrete Hilfe vor Ort jedoch langsamer und lückenhafter ankommt.

Karte Erdbeben Afghanistan 2025
Grafik/Karte: AMEPRES

Medien, Netze, Mauern

Im September 2025 schränkten die Behörden in der Provinz Balkh den Zugang zum Internet stark ein: Glasfaserleitungen und Wi-Fi wurden in Behörden, Unternehmen und Privathaushalten abgeschaltet. Offiziell wurde das mit religiös-moralischen Gründen begründet. Praktisch bedeutete es aber, dass Online-Unterricht nicht mehr stattfinden konnte und kleinere Firmen ihre Kunden verloren. In anderen Provinzen blieb das Netz zwar an, doch der Schritt zeigte, wie schnell der digitale Alltag durch politische Entscheidungen eingeschränkt werden kann. Für Journalistinnen und Journalisten kommt noch ökonomischer Druck hinzu: Sie arbeiten mit geringen Einnahmen und unter restriktiven Regeln. Zum Welttag der Pressefreiheit erklärte die UN-Mission in Kabul: „Journalismus ist die Grundlage einer informierten Gesellschaft.“ Damit sollte unterstrichen werden, wie wichtig Zugang zu Information für die Bevölkerung bleibt – gerade dort, wo er immer öfter blockiert wird.

Geopolitisches Interessen-Sammelsurium

In Pakistan steht die Sicherheit im Mittelpunkt: Die Regierung in Islamabad wirft den afghanischen Taliban in Kabul vor, nicht entschieden genug gegen die pakistanische Taliban-Bewegung TTP (Tehreek-e-Taliban Pakistan) vorzugehen, die von afghanischem Boden aus operiert. Gleichzeitig setzt Pakistan Hunderttausende afghanische Flüchtlinge unter Druck, indem Aufenthaltsfristen auslaufen und Rückführungen forciert werden.

Auch Iran hat seit Juni 2025 die Abschiebungen massiv ausgeweitet. Hinzu kommt der Streit um den Helmand-Fluss: Nach einem Vertrag von 1973 stehen Iran feste Wassermengen zu, die Afghanistan in Dürrejahren nicht liefern kann.

Streit um Wasser Iran Afghanistan
Streit über einen 50 Jahre alten Vertrag: 850 Millionen Kubikmeter Wasser muss Afghanistan laut Vertrag von 1973 in den Iran durchlassen

China bleibt vor allem wirtschaftlich präsent. Im Fokus steht das Kupferprojekt Mes Aynak und die Debatte über eine mögliche Anbindung Afghanistans an den chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor CPEC. Politisch verhält sich Peking aber vorsichtig und hat die Taliban-Regierung bislang nicht offiziell anerkannt.

Russland ist am weitesten gegangen: Moskau hat im Juli 2025 als erstes Land die Taliban-Regierung in Kabul anerkannt und spricht offen über Zusammenarbeit im Kampf gegen den ISKP, den regionalen Ableger des sogenannten Islamischen Staates.

Zusammengenommen zeigt sich: Auch wenn die Nachbarn unterschiedliche Prioritäten haben, alle müssen Wege finden, mit einer Regierung umzugehen, die seit vier Jahren an der Macht ist – und mit den Folgen ihrer Politik im Innern.

Kleinen Fortschritten halten die Hoffnung am Leben

Hoffnung in Afghanistan zeigt sich selten in großen politischen Entscheidungen. Sie entsteht in kleinen, praktischen Verbesserungen. Wenn Straßen repariert werden, können Lastwagen wieder Märkte erreichen. Wenn Schulen geöffnet bleiben, gibt es für Kinder eine Perspektive, auch wenn viele Familien sie wegen Armut nicht regelmäßig hinschicken können. Hoffnung wächst, wenn Arbeit vorhanden ist.

Rückkehrer schöpfen Mut, wenn Grenzübergänge offen sind und sie ihre Familien wieder erreichen. Viele kehren bewusst zurück, um am Wiederaufbau mitzuwirken. Sie arbeiten auf Baustellen, in Familienbetrieben oder bei der Instandsetzung von Feldern und Häusern.

Hoffnung entsteht auch, wenn Hilfsgüter rechtzeitig verteilt werden. Wenn Mehl erschwinglich bleibt. Wenn Medikamente in den Apotheken liegen. Wenn beschädigte Brücken repariert werden.

Ob diese Bedingungen erfüllt werden, entscheidet, ob Rückkehrer bleiben und ihre Pläne umsetzen können. Bleiben Material, Aufträge oder Unterstützung aus, gerät der Aufbau ins Stocken. Dann gehen die kleinen Fortschritte wieder verloren.

Die Hoffnung der kleinen Fortschritte
Die Hoffnung der kleinen Fortschritte

Was in den nächsten Monaten wirklich entscheidend sein wird

In nächsten Monaten wird keine einzelnen dekretierte Entscheidung die Zukunft des Landes prägen, sondern das Zusammenspiel dreier Linien, die sich entweder gegenseitig verstärken oder entkräften.

Die erste Linie verläuft durch die Grenzstationen: Halten Iran und Pakistan den Druck hoch, setzt sich die Rückkehrwelle fort und überfordert jene Bezirke, die bereits Tausende aufgenommen haben. Sinkt der Druck oder werden Abläufe planbar – angekündigte Fristen, humane Verfahren, koordinierte Übergaben –, kann aus chaotischer Rückkehr ein Prozess werden, der Familien zumindest planen lässt. In dieser Planung liegt Stabilität, weil sie entscheidet, ob Kinder eingeschult, Felder bestellt und Häuser vor dem Winter notdürftig repariert werden.

Die zweite Linie verläuft durch Klassenzimmer und Büros: Öffnen sich Schulen für Mädchen und Hochschulen für Studentinnen, auch schrittweise, verändert sich binnen Wochen der internationale Ton, die Bereitschaft zu finanzieren steigt, und Hilfe wird weniger provisorisch. Bleibt die Tür zu, verliert Afghanistan nicht nur Talente, sondern auch die Hand, die andere reichen wollen. Selbst eine begrenzte, glaubhafte Öffnung – Pilotbezirke, klare Curricula, sichere Wege – könnte die Spirale drehen: zuerst Vertrauen, dann Programme, dann Jobs, schließlich ein Stück Wachstum.

Die dritte Linie zeichnet sich in der Sicherheitslage ab: Solange der ISKP im Land nur begrenzt aktiv bleibt und in der Region keine großen Anschläge verübt, verstärkt sich das Gefühl von Stabilität, das viele Rückkehrer bereits wahrnehmen. Sollte der Gruppe jedoch ein größerer Angriff in Kabul, gegen eine Minderheit oder im Ausland gelingen, hätte das unmittelbare Folgen: Grenzen würden wieder stärker geschlossen, Projekte gestoppt und Hilfskonvois verzögert.“

Zwischen diesen Linien liegt ein noch ein praktischer Prüfstein: die Erdbebenhilfe im Osten. Kommen Winterplanen, Heizmaterial und Bargeldzuschüsse vor dem ersten Schnee in den Hochlagen an, zeigt das, dass Logistik und Politik noch zueinander finden. Kommen sie zu spät, setzt sich die Lehre durch, die schon zu oft galt: In Afghanistan entscheidet das Timing mehr als die Höhe der Zusage.

Am Ende bleibt die Frage, ob Afghanistan mit den Taliban als De-facto-Regierung dauerhaft regierbar ist. Seit vier Jahren sichern sie eine Form von Ordnung, die den Bürgerkrieg beendet hat, aber keine internationalen Standards erfüllt. Für eine Zukunft braucht das Land mehr als Ruhe: Es braucht funktionierende Institutionen, die Wirtschaft öffnen, die Städte stabilisieren und verlässliche Regeln schaffen. Die Taliban müssen zeigen, dass sie nicht nur Kontrolle ausüben, sondern Strukturen entwickeln können, die Investitionen, Bildung und Hilfe möglich machen. Internationale Partner wiederum müssen klären, ob sie pragmatisch mit einer nicht anerkannten Regierung zusammenarbeiten oder ob sie auf Veränderungen bestehen, die bisher nicht eingetreten sind. In dieser Spannung zwischen innenpolitischer Kontrolle und außenpolitischer Erwartung entscheidet sich, ob Afghanistan über das bloße Ende des Krieges hinaus eine Perspektive gewinnt.

Für westliche Staaten bedeutet das zugleich, dass Zusammenarbeit nicht auf dem Überstülpen eigener politischen Modelle beruhen kann. Afghanistan hat eine andere Geschichte, andere Machtstrukturen und andere gesellschaftliche Grundlagen. Der Versuch, westliche Demokratien eins zu eins zu übertragen, ist weltweit in den vergangenen Jahrzehnten gescheitert. Wer künftig mit dem Land arbeiten will, muss deshalb akzeptieren, dass politische Ordnung und Stabilität in Afghanistan andere Formen annehmen als in Europa – und dass Fortschritt nur mit realistischen Kompromissen möglich ist.


Quellen (APA, Auswahl nach Themenblöcken)

Allgemein / Lokal
– Amepres Lokaljournalisten-Netzwerk Kabul

Politik/Anerkennung/Region
– Reuters. (2025, 3. Juli). Russia becomes first country to recognise Taliban government of Afghanistan.
– Al Jazeera. (2025, 3. Juli). Russia becomes first country to recognise Afghanistan’s Taliban government.
– IISS. (2025, 8. Aug.). Will Russia’s diplomatic recognition… have a domino effect?
– FT. (2025, 3. Juli). Russia becomes the first country to formally recognize…
– Mining Magazine/DID Press. (2025, 19. Aug.). Mes Aynak contract extended +15 years.

Frauenrechte/Medien/O-Töne
– UNAMA. (2025, 8. März). International Women’s Day statement (Zitat Otunbajewa).
– UN Women. (2025, 17. Juni). Nearly eight out of 10 young Afghan women are NEET.
– UNAMA. (2025, 3. Mai). World Press Freedom Day statement.
– AP/Reuters. (2025, 11.–12. Sept.). Taliban restrictions force UN to close 8 UNHCR centres.

Sicherheit/ISKP
– NCTC (U.S. DNI). ISIS-Khorasan overview.
– OSCE U.S. Mission. (2024, 11. Apr.). On the Crocus City Hall attack.
– Bestätigungsdaten (AP/Reuters/Wikipedia-Compilations): Crocus City Hall 2024; Vienna plot 2024; Villach 2025; Kabul/Kunduz 2025.

Wirtschaft
– Weltbank. (2025, April/Juni). Afghanistan Development Update/Economic Monitor (Defizit 9,4 Mrd.; Importe 10,7 Mrd.; Exporte 1,3 Mrd.; Kohle/Textilien-Exporte).

Opium/Drogenmärkte
– UNODC. (2024–2025). Afghanistan Opium – Gebiet & Produktion (2022: 233.000 ha; 2023: 10.800 ha; 2024: 12.800 ha, 433 t; Durchschnittspreis 2024 ≈750 USD/kg).

Humanitär/Migration
– UNHCR ODP. (2025, 11. Sept.). Total Returns to Afghanistan in 2025 (Iran 2,045,932; Pakistan 603,708; Andere 30,601; Total 2,680,241).
– IOM/ReliefWeb. (2025, Sommer). Mass returns warnings/updates.

Erdbeben Ostafghanistan 31.08.2025
– WHO EMRO / OCHA / UNICEF (Sept. 2025): Opferzahlen, Häuser, Gesundheitsbedarf, Appell ≈140 Mio. USD.

Digitale Restriktionen
– AP (Sept. 2025): Balkh: Glasfaser/Wi-Fi-Verbot.

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