Jemen 2025 Titel
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Jemen im September 2025: Krieg, globale Interessen und unvorstellbares Leid

Lizenzartikel von Jürgen Dirrigl – Titelbild und alle Bilder im Artikel: AMEPRES
Es ist still in einem kleinen Dorf am Rand des Sarawat-Gebirges. Der Wind streift durch Terrassenfelder, die in der Dunkelheit verschwinden. Eine Familie sitzt im Hof, hört auf die fernen Geräusche der Straße, auf das Rauschen eines Generators, auf eine SMS des Vetters, der als Matrose auf einem Containerschiff arbeitet und heute die Bab al-Mandab passiert. In dieser Nacht, am 23. September 2025, fühlt sich Jemen nicht wie ein einziger Krieg an, sondern wie viele überlagerte Konflikte, die sich in den Alltag der Menschen hineindrücken.

Aus der Ferne kommt die Meldung der britischen Seewarnstelle UKMTO: Ein Frachter im Golf von Aden meldet eine Detonation in der Nähe. Keine Schäden, keine Verletzten. „Vessel and crew are safe“, heißt es in der knappen Lageinfo, der Kapitän setzt die Fahrt fort. Für Seeleute klingt das beruhigend. Für Reeder bedeutet es weiter steigende Prämien. Für Familien im Bergdorf heißt es: Die Seewege sind unsicher, und wenn Schiffe ausweichen, wird Mehl teurer.

Eine Lageübersicht

Im Herbst 2025 ist der Jemen ein Land, das in zwei große Machtbereiche zerrissen ist. Im Norden herrschen die Huthis, eine Bewegung, die sich selbst Ansar Allah nennt. Sie stammen aus dem Hochland um die Provinz Saada, sind religiös geprägt vom Zaydismus, einer Richtung des schiitischen Islam, und sie wuchsen in den 1990er Jahren zunächst als religiöse Erneuerungsbewegung. Aus Protest gegen Korruption, Armut und saudischen Einfluss griffen sie später zu den Waffen. Ihr Aufstieg beschleunigte sich 2014, als sie die Hauptstadt Sanaa einnahmen. Heute kontrollieren sie weite Teile des Nordwestens, etwa zwei Drittel der Bevölkerung, und mit Hodeida den wichtigsten Hafen für die Versorgung des Landes. Ihre Stärke liegt in einem dichten Sicherheitsapparat, einer funktionierenden Steuer- und Zollverwaltung und in der Fähigkeit, Nachschub über Schmuggel und iranische Hilfe zu sichern. Schätzungen gehen von über 100.000 Kämpfern aus, ergänzt durch lokale Milizen und einen wachsenden Drohnen- und Raketenapparat.

Im Süden dagegen ist die Lage zersplittert. Offiziell führt dort die international anerkannte Regierung, vertreten durch den Präsidialrat (PLC). Er wurde 2022 gebildet, nachdem Präsident Abdrabbuh Mansur Hadi sein Amt unter saudischem Druck abgab. Der Rat ist nicht gewählt, sondern ein Kompromissgremium: acht Männer, die unterschiedliche Strömungen repräsentieren – von der islamisch geprägten Partei Islah, über alte Armeeoffiziere bis hin zu Vertretern südlicher Milizen. Neben dem PLC spielt der Southern Transitional Council (STC) eine zentrale Rolle. Der STC entstand 2017 aus der sogenannten „Südbewegung“ (al-Hirak), die schon seit den 2000er Jahren Unabhängigkeit für den früheren Staat Südjemen forderte. Finanziell und militärisch wird er stark von den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützt. In Aden, der provisorischen Hauptstadt, sind seine Kämpfer allgegenwärtig, von Polizei-Checkpoints bis zu Hafenanlagen.

Jemen 2025
Karte: AMEPRES

Zwischen diesen beiden Lagern verlaufen die Frontlinien: bei Marib, wo Gas- und Ölfelder liegen, bei Taiz, das durch Blockaden von der Außenwelt abgeschnitten ist, und entlang der Küstenstraßen, über die Nachschub und Hilfsgüter transportiert werden. Auf See ist die Lage ebenfalls eskaliert: Huthi-Angriffe auf Schiffe im Roten Meer und im Golf von Aden haben die Route durch den Suezkanal unberechenbar gemacht. Israel reagiert mit Luftschlägen auf jemenitische Ziele, nachdem Raketen und Drohnen aus Huthi-Gebieten in seine Richtung gestartet wurden.

Frieden ist deshalb so schwer, weil jede Seite etwas anderes will. Die Huthis wollen dauerhafte politische Anerkennung und die Kontrolle über Häfen und Einnahmen. Der STC will weitgehende Autonomie oder gar die Rückkehr zu einem unabhängigen Südjemen. Der PLC versucht, beides zu vereinen, scheitert aber oft an inneren Rivalitäten. Und die Regionalmächte verschieben das Gleichgewicht: Iran stützt die Huthis, Saudi-Arabien und die Emirate stützen den Süden, die USA sichern ihre Schiffe, Oman vermittelt, und Israel bombardiert. Das Ergebnis ist ein Land, das nicht in Frieden findet, weil keine Seite bereit ist, auf das zu verzichten, was sie als überlebenswichtig betrachtet.

Der Jemen im Netz der Regionalmächte

Wer den Jemen verstehen will, darf ihn nicht nur als Konflikt zwischen Norden und Süden betrachten. Der Krieg ist längst Teil eines größeren Machtgefüges, in dem regionale und internationale Akteure mitspielen. Für die Huthis bedeutet das Rückhalt von außen: Sie erhalten technische Unterstützung, Waffen und politische Rückendeckung aus dem Iran, der in ihnen einen Hebel gegen Saudi-Arabien und Israel sieht. Auch Finanzströme laufen über verschachtelte Netzwerke, vom Schmuggel im Roten Meer bis zu inoffiziellen Transfers aus Teheran.

Die international anerkannte Regierung, repräsentiert durch den Präsidialrat (PLC), stützt sich dagegen vor allem auf Saudi-Arabien. Riad zahlt Sold für Einheiten, übernimmt Teile der Verwaltungsausgaben und liefert Treibstoff. Daneben stehen die Vereinigten Arabischen Emirate, die nicht nur Geld, sondern auch Militärberater und Ausrüstung in den Süden bringen – allerdings mit einem klaren Schwerpunkt auf den Southern Transitional Council (STC), den sie als Verbündeten ihrer eigenen Sicherheitsinteressen sehen.

Über diesen regionalen Rahmen hinaus mischen weitere Akteure mit: Oman versucht, als stiller Nachbar zu vermitteln, Gastgeber von Gesprächen zu sein und einen Draht zu allen Seiten zu halten. Israel wiederum ist direkt ins Gefüge eingebunden: Seit Ende 2023 beschießen die Huthis Schiffe, die als israelfreundlich gelten, und schicken Drohnen in Richtung israelisches Staatsgebiet. Israel antwortet mit Luftschlägen auf Stellungen in Sanaa und am Hafen Hodeida.

Hodeidah im Jemen
Israel bombardiert Hafen von Hodeidah nach Drohnenangriff auf Tel Aviv.

Damit ist der Krieg im Jemen längst auch ein Stellvertreterkrieg, in dem lokale Kämpfer um Macht, Territorien und Einnahmen ringen, während die großen Spieler der Region – Iran, Saudi-Arabien, die Emirate und Israel – ihre eigenen Konflikte mit austragen. Für die Menschen vor Ort bedeutet das, dass jede Frontlinie nicht nur von jemenitischen Interessen geprägt wird, sondern von Geld, Waffen und Entscheidungen, die in Teheran, Riad, Abu Dhabi, Tel Aviv oder Washington fallen. Der Krieg, der im Jemen ausgetragen wird, ist so zu einem Spiegel der ganzen Region geworden.

Geopolitik am Horn von Afrika

Der Jemen ist aber noch weit mehr als Kriegsschauplatz der regionalen Akteure. Er liegt an einem geostrategischen Nadelöhr, das den globalen Handel unmittelbar berührt: der Meerenge von Bab al-Mandab, die das Rote Meer mit dem Golf von Aden und damit den Suezkanal mit dem Indischen Ozean verbindet. Durch diese Passage fließen jeden Tag Millionen Barrel Öl und ein erheblicher Teil des Welthandels. Jede Störung hier treibt Versicherungsprämien und Frachtraten in die Höhe – und macht den Jemen zu einem Konfliktfeld, das weit über die Region hinaus Aufmerksamkeit erhält.

Für die USA geht es um die Sicherung freier Seewege. Schon seit Jahren patrouillieren amerikanische Kriegsschiffe in den Gewässern rund um den Jemen. Offiziell gilt es, die internationale Schifffahrt zu schützen, tatsächlich ist es auch Teil des globalen Wettbewerbs mit Mächten, die an Einfluss im Indischen Ozean gewinnen wollen. Die USA fliegen weiterhin Drohnenangriffe im Jemen, meist gegen Stellungen der Huthis an der Küste und in Sanaa. Washington begründet die Angriffe offiziell mit dem Schutz der Seewege und der Sicherheit internationaler Besatzungen, betont jedoch, dass es sich nicht um ein Eingreifen in den Bürgerkrieg, sondern um eine Reaktion auf konkrete Bedrohungen des globalen Handels handelt.

China betrachtet die Region im Rahmen seiner „Neuen Seidenstraße“. Der Handel zwischen Asien, Afrika und Europa läuft zu großen Teilen über den Suezkanal, und Peking hat in Dschibuti eine eigene Marinebasis eröffnet – nur wenige Kilometer von der jemenitischen Küste entfernt. Jeder Konflikt, der die Route unsicher macht, bedroht chinesische Handelsinteressen.

Russland wiederum sucht in der Region nach Anknüpfungspunkten, um seinen Einfluss im Nahen Osten und am Horn von Afrika zu stärken. Moskau zeigt Interesse an möglichen Marinezugängen, spricht mit sudanesischen und eritreischen Partnern über Hafenrechte und beobachtet den Jemen genau, weil jeder Umweg im Ölhandel auch geopolitische Karten neu mischt.

Auch Europa hat ein direktes Interesse. Für die EU ist der Jemen ein Schlüsselpunkt in Fragen von Handel, Migration und Sicherheit. Europäische Kriegsschiffe beteiligen sich an internationalen Missionen, die vor der Küste patrouillieren. Gleichzeitig sind auch die europäische Märkte stark abhängig von stabilen Transportwegen, die durch den Suezkanal führen.

Zusätzlich verstärkt der Israel-Gaza-Konflikt die Bedeutung des Jemen. Seit die Huthis Angriffe auf Schiffe im Roten Meer als Solidaritätsbekundung mit Palästina begründen, ist der Jemen faktisch Teil dieses Kriegszusammenhangs geworden. Jeder Angriff auf Frachter mit mutmaßlichen Israel-Bezügen verknüpft den Konflikt am Gazastreifen mit der Lage am Horn von Afrika. Umgekehrt verschärfen israelische Luftschläge im Jemen die Wahrnehmung in der arabischen Welt, dass der Gaza-Krieg längst regionale Ausmaße angenommen hat. Für die jemenitische Bevölkerung bedeutet das, dass ein Krieg, der tausende Kilometer entfernt in Gaza tobt, über Seewege, Luftschläge und politische Narrative direkt in ihren Alltag hineinwirkt.

Der Jemen ist damit zu einem Testfall globaler Ordnungspolitik geworden. Für die Großmächte zählt hier in erster Linie Kontrolle über Handelswege, Energieflüsse und strategische Positionen. Das Schicksal der Menschen vor Ort ist in diesem Kalkül kaum mehr als eine Randnotiz – bestenfalls Mittel zum Zweck, oft nicht einmal das.

Jemen Geopolitik 2025
Städte zwischen Alltag und Fronten

Das Leben in den großen Städten des Jemen spiegelt den ganzen Widerspruch dieses Krieges wider: zwischen einem Alltag, der irgendwie weitergeht, und einer Zerstörung, die unmöglich zu übersehen ist. Sanaa, die von den Huthis kontrollierte Hauptstadt, wirkt auf den ersten Blick geordnet. Märkte öffnen am Morgen, Kinder laufen zur Schule, Motorräder verstopfen die engen Gassen. Doch dieser Alltag ist brüchig. Strom kommt nur stundenweise aus privaten Generatoren, Wasser erreicht die Haushalte überwiegend über Tankwagen, und Gehälter im öffentlichen Dienst bleiben oft monatelang aus. Lehrkräfte und Ärzte überleben mit Nebenjobs, Kliniken arbeiten mit Notstrom. Wer durch die Altstadt geht, sieht die berühmten Lehm-Turmhäuser mit ihren verzierten Fenstern, viele davon beschädigt oder notdürftig repariert. Ganze Straßenzüge sind von Einschlägen gezeichnet, Dächer mit Planen geflickt, Treppenhäuser gesperrt.

Aden, die provisorische Hauptstadt des Südens, zeigt ein anderes, aber ebenso fragiles Bild. Die Stadt liegt am Meer, doch sie leidet seit Monaten unter stundenlangen Blackouts. Stromausfälle treffen Krankenhäuser, Wasserpumpen und Kühlketten, weshalb Demonstrationen gegen die Versorgungslage immer wieder aufflammen. Auch hier sind Binnenvertriebene in leerstehenden Häusern oder Schulen untergebracht, oft zu mehreren Familien in engen Räumen. Mietpreise sind hoch, Baumaterialien teuer, und wer sein Haus reparieren will, braucht nicht nur Geld, sondern auch Genehmigungen, die oft an lokale Machtgruppen gebunden sind.

Zwischen diesen beiden Städten verlaufen die Frontlinien, die den Jemen in Zonen unterschiedlicher Realität teilen. In Marib geht es um Öl- und Gasfelder, deren Einnahmen beide Seiten dringend brauchen. In Taiz zeigt sich am deutlichsten, wie der Krieg eine Stadt zerschneiden kann. Die Stadt ist seit Jahren von Huthi-Blockaden eingeschlossen, Straßen sind nur mit Umwegen passierbar, und Transporte von Lebensmitteln oder Medikamenten dauern Tage statt Stunden. Für viele Familien bedeutet das, dass ein Arzttermin oder der Weg zur Universität zur lebensgefährlichen Reise werden kann.

Diese Realität hat den Wohnraum in allen großen Städten verändert. In Sanaa wie in Aden, in Taiz wie in Marib sind Zehntausende Gebäude beschädigt oder zerstört. Wer die Mittel hat, repariert Schritt für Schritt. Wer nichts hat, hängt Planen in Fensteröffnungen, ersetzt Dächer mit Blech oder Holz und zieht mit der ganzen Familie in ein einziges intaktes Zimmer. Wohnen ist damit selbst zu einer unsichtbaren Front geworden: ein täglicher Kampf um Schutz, um Würde und um ein Minimum an Normalität in einem Land, in dem Krieg jede Stadt und jedes Haus erreicht.

Häfen und Seewege

Die Häfen des Jemen sind die Lebensadern eines Landes, das den Großteil seiner Nahrungsmittel und Treibstoffe importiert. Hodeida am Roten Meer bleibt der wichtigste Zugang für Hilfsgüter in den Norden. Hier überwacht das UN-Programm UNVIM (United Nations Verification and Inspection Mechanism) seit Jahren, welche Schiffe einlaufen dürfen. Doch lange Liegezeiten, fehlende Kräne und immer wieder beschädigte Lagerhallen sorgen dafür, dass Hilfsgüter oft wochenlang im Hafen stehen. Stromausfälle unterbrechen die Kühlketten, sodass Medikamente oder Impfstoffe unbrauchbar werden.

Im Süden dominiert der Hafen von Aden. Er ist größer und technisch besser ausgestattet, aber auch stärker von politischen Spannungen betroffen. Immer wieder blockieren Machtkämpfe zwischen dem Präsidialrat und dem Südübergangsrat (STC) Abläufe. Treibstofflieferungen kommen verspätet an, Container stauen sich. Der Hafen von Mukalla im Osten wird zwar genutzt, ist aber kleiner und weniger effizient. Mocha, einst ein historisches Zentrum des Kaffeehandels, dient heute nur noch begrenzt für regionale Transporte.

Hafen Mukalla Jemen 2025
Blick auf den Hafen von Mukalla

Die Seewege selbst sind seit Ende 2023 ein Schauplatz von Angriffen und Drohungen. Huthi-Drohnen und Raketen haben mehrfach Handelsschiffe im Roten Meer und Golf von Aden attackiert. Manche Frachter wurden beschädigt, andere wichen auf die längere Route um das Kap der Guten Hoffnung aus. Für Reedereien steigen die Versicherungsprämien massiv, und diese Kosten schlagen direkt auf die Preise von Weizen, Mehl und Öl im Jemen durch. Auch Hilfslieferungen verzögern sich, wenn Schiffe umgeleitet werden oder in Dschibuti Zwischenstopps einlegen müssen.

Damit sind Häfen und Seewege nicht nur logistische Punkte, sondern politische Waffen. Wer den Hafen von Hodeida kontrolliert, kontrolliert die Versorgung von Millionen Menschen. Wer Drohnen über der Meerenge Bab al-Mandab stationiert, kann den globalen Handel ins Stocken bringen. Für die jemenitische Bevölkerung heißt das, dass der Preis von Grundnahrungsmitteln oder der eines Kanisters Diesel von Entscheidungen abhängt, die weit über ihre Reichweite hinaus fallen.

Wirtschaft zwischen Nord und Süd

Die wirtschaftliche Realität spiegelt die politische Spaltung des Landes wider. Auch die Wirtschaft im Jemen funktioniert 2025 in zwei parallelen Systemen: Im Norden unter Kontrolle der Huthis zirkulieren überwiegend alte Rial-Banknoten, im Süden dominiert die neue Serie, die von der international anerkannten Regierung ausgegeben wird. Das Ergebnis sind zwei Wechselkurse und damit zwei Preiswelten für dieselben Waren. Während sich der Kurs in Huthi-Gebieten bei etwa 530–540 Rial je US-Dollar hält, verlor die Währung im Süden deutlich an Wert und lag Ende Juni bei rund 2.630 Rial, Ende Juli bei etwa 2.830 Rial. Anfang August versuchte die Regierung in Aden gegenzusteuern, indem sie Wechselstuben stärker regulierte und einen engeren Referenzkurs festlegte. Für die Menschen änderte das jedoch wenig: Diesel, Mehl oder Kochgas kosten im Süden oft ein Mehrfaches dessen, was im Norden verlangt wird.

Diese Währungs-Spaltung hat Folgen bis in die Haushalte hinein. Händler kalkulieren in Dollar, müssen aber mit zwei verschiedenen Rial-Scheinen arbeiten. Importeure schlagen Preisunterschiede aus, indem sie Lieferketten gezielt umleiten. Familien, die auf Überweisungen von Verwandten im Ausland angewiesen sind, trifft das besonders hart. Remittances – Geldsendungen von jemenitischen Arbeitsmigranten vor allem aus Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten – summieren sich jährlich auf fast 3,7 Milliarden US-Dollar. Doch in Huthi-Gebieten werden diese Transfers häufig nicht in Dollar ausgezahlt, sondern in Rial oder Saudi-Rial und mit hohen Gebühren belastet. Damit fehlen Familien plötzlich Mittel für Miete, Medikamente oder Schulgeld.

Auf staatlicher Ebene sind die Probleme noch größer. Öl- und Gasexporte, die früher die zentrale Einnahmequelle waren, sind seit Drohnenangriffen auf südliche Exportterminals im Oktober 2022 praktisch blockiert. Für die international anerkannte Regierung bedeutet das massive Devisenverluste. 2024 sanken ihre Einnahmen (ohne Zuschüsse) auf nur noch 2,5 % des Bruttoinlandsprodukts. Um überhaupt Gehälter und Subventionen zu finanzieren, ist Aden regelmäßig auf externe Hilfe angewiesen. Saudi-Arabien sagte im September 2025 erneut 368 Millionen US-Dollar Budgethilfe zu. Die Huthis im Norden sichern ihre Verwaltung dagegen über Zölle, Steuern und Abgaben sowie durch die Kontrolle des Korridors Hodeida–Sanaa, über den der Großteil der Importware für den Norden läuft.

Für die Bevölkerung bedeutet das vor allem steigende Preise. In Regierungsgebieten stieg der Warenkorb an Grundnahrungsmitteln im Juni 2025 auf einen Rekordwert – 37 % höher als im Vorjahr. Zwar sanken die Preise kurzzeitig nach den Wechselkurs-Eingriffen im August, doch die Entlastung war begrenzt. Jeder Angriff auf Schiffe im Roten Meer treibt Versicherungsprämien und damit Frachtraten nach oben, was sich direkt in Brot- und Ölpreisen niederschlägt.

Wirtschaft Jemen 2025
Grafik: AMEPRES

Der Privatsektor überlebt durch Improvisation. Firmen halten minimale Lagerbestände, Kleinbetriebe arbeiten mit Generatoren und kaufen Diesel zu hohen Preisen ein. Beschäftigte im öffentlichen Dienst in Sanaa erhalten Gehälter oft verspätet oder gar nicht, im Süden zwar regelmäßiger, aber in einer stark entwerteten Währung. Banken kämpfen auf beiden Seiten mit Vertrauensverlust: Im Norden wegen strenger Devisenkontrollen, im Süden wegen Währungsverfall und wiederholter Eingriffe der Zentralbank.

Der Jemen lebt damit in einer Kriegswirtschaft, die den Mangel verwaltet. Hafeneinnahmen, Zollgebühren, Auslandsüberweisungen und humanitäre Hilfen sind die Träger dieser Ökonomie. Doch solange Ölgelder blockiert bleiben, Seewege unsicher sind und zwei Währungssysteme nebeneinander bestehen, wird die Wirtschaft weder wachsen noch sich erholen – sie bleibt ein fragiles System, das die Krise verlängert, statt sie zu überwinden.

Versorgung und Krankheiten

Die humanitäre Lage bestimmt jeden Tag im Jemen. Mehr als die Hälfte aller Gesundheitseinrichtungen ist nicht vollständig funktionsfähig. Viele Kliniken arbeiten nur stundenweise mit Generatorstrom, Medikamente sind knapp und das Personal überlastet. Schwangere Frauen fahren stundenlang zu einer Geburtshilfe, die einen Kaiserschnitt durchführen könnte, und werden dort doch abgewiesen, wenn Blutkonserven, Anästhetika oder Treibstoff fehlen. Impfkampagnen werden immer wieder begonnen, müssen aber abgebrochen werden, wenn Sicherheit, Kühlketten oder Geld fehlen. In vielen Stadtvierteln kommt Wasser nicht mehr aus der Leitung, sondern aus Tankwagen. Wer das nicht bezahlen kann, greift auf ungesicherte Brunnen zurück. So entsteht eine Kette, die von verunreinigtem Wasser zu Durchfallerkrankungen, Cholera und Unterernährung führt.

Die Cholera-Welle 2024/2025 hat sich genau auf diesem Boden entwickelt. Von Anfang 2023 bis Frühjahr 2025 summierten sich die Zahlen auf etwa 282.500 Verdachtsfälle und über 900 Tote. Der Ausbruch wurde begünstigt durch ausgefallene Wasserchlorierung, Überflutungen, die Abwasser in Brunnen spülten, die Abhängigkeit von Tankwagen, Engpässe bei Seife und überfüllte Unterkünfte. Viele der Todesfälle traten auf, weil Betroffene zu spät oder gar nicht in die Behandlung kamen, sei es aus Kostengründen oder wegen unsicherer Wege. Orale Cholera-Impfstoffe helfen, Ausbrüche zu dämpfen, sind aber weltweit knapp und werden in Notlagen priorisiert. Am wichtigsten bleibt deshalb der Zugang zu sauberem Wasser und funktionierender Abwasserentsorgung.

Cholera Jemen 2025
Grafik: AMEPRES

Unterernährung und Krankheit verschärfen sich gegenseitig. 2025 benötigen rund 500.000 Kinder eine Behandlung wegen schwerer Auszehrung. Millionen weitere leiden unter mittlerer Unterernährung. Viele Behandlungszentren mussten zeitweise Aufnahmestopps melden, weil Spezialnahrung oder Antibiotika fehlten. Gleichzeitig wächst die akute Ernährungsunsicherheit: Mitte September 2025 schätzten die Vereinten Nationen, dass etwa 18 Millionen Menschen nicht genug zu essen haben. Das bedeutet, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung in einer ernsten Krise lebt, in der Familien Mahlzeiten auslassen, Kredite aufnehmen oder Lebensmittel auf Pump kaufen müssen. Besonders hoch sind die Raten in den Küstengebieten, wo Einkommen aus Fischfang, Kühlketten und Märkten durch Unsicherheit, Dieselpreise und Hafenstörungen einbrechen.

Auch Impfprogramme stehen unter Druck. 2025 wurden erneut Fälle von Polio registriert, die aus impfstoffbedingten Virusvarianten hervorgingen. Um eine Ausbreitung zu verhindern, werden landesweite Impfrunden durchgeführt. Dennoch bleibt der Zugang zu manchen Regionen eingeschränkt, und manche Familien verweigern Impfungen. Parallel treten Masern immer wieder dort auf, wo Lücken in den Impfungen bestehen, Schulen geschlossen sind oder Familien durch Flucht und Vertreibung keinen Zugang zu Gesundheitsdiensten haben.

Die Versorgung mit Nahrungsmitteln hängt direkt an den Seewegen. Jede Störung der Schifffahrtsroute durch die Meerenge Bab al-Mandab lässt Versicherungsprämien und Transportpreise steigen. Händler schlagen diese Kosten auf die Endpreise. Viele Haushalte müssen Mahlzeiten streichen oder sich verschulden, um Grundnahrungsmittel zu kaufen. Gleichzeitig bleibt die Finanzierung der internationalen Hilfe unzureichend. 2025 wurde nur ein Teil der benötigten Mittel bereitgestellt. Programme mussten kürzen, Rationen wurden kleiner, manche Lieferungen ganz gestoppt.

Auch die Binnenvertreibung hält an. Von Januar bis Ende September 2025 wurden nach offiziellen Erhebungen der Internationalen Organisation für Migration über 12.900 Menschen neu vertrieben. In manchen Wochen waren es nur wenige Dutzend Familien, in anderen Hunderte, die ihre Heimat wegen lokaler Gewalt, Überschwemmungen oder dem Zusammenbruch lokaler Versorgung verlassen mussten. In Sammelunterkünften oder bei Gastfamilien sind Wasserstellen, Latrinen und Küchen oft überlastet. Krankheiten breiten sich dort besonders schnell aus. Frauen und Mädchen berichten zudem von erhöhter Gefahr sexualisierter Gewalt, wenn Unterkünfte überfüllt sind oder Straßen ohne Licht und Schutz bleiben.

Jemen 2025
Nach mehr als einem Jahrzehnt Bürgerkrieg sind Leid und die lebensbedrohliche Armut unvorstellbar.



Im Ergebnis ist Gesundheit im Jemen oft eine Frage des Wohnorts und des Geldes. Wer in der Nähe einer funktionierenden Klinik lebt, Zugang zu sauberem Wasser hat und an Impfungen teilnimmt, übersteht auch Krankheitswellen deutlich besser. Wer abgelegen wohnt oder in Vierteln ohne stabile Grundversorgung lebt, trägt das größte Risiko. Eine dauerhafte Verbesserung ist nur möglich, wenn die Grundlagen gesichert werden: chloriertes Wasser, Abwasserentsorgung, Strom für Pumpen und Kühlketten, finanzierte Impfungen, funktionierende Transportwege und der Schutz von Personal und Patienten. Solange diese Bausteine fehlen, wird jede nächste Regenzeit, jede Preiserhöhung auf See und jede Finanzlücke im Hilfssystem die nächste Krankheitswelle vorbereiten.

Menschenrechte und Pressefreiheit

Auch die Menschenrechtslage im Jemen bleibt 2025 düster. In den von den Huthis kontrollierten Gebieten werden Kritiker, Aktivisten und Journalisten regelmäßig festgenommen, teils ohne Anklage, teils nach Verfahren, die internationalen Standards nicht entsprechen. Berichte dokumentieren Fälle von Folter, Verschwindenlassen und öffentliche Hinrichtungen. Frauenrechte sind stark eingeschränkt: Viele Frauen benötigen für Reisen eine männliche Begleitung, und in Sanaa wurden Versuche von Frauenrechtsorganisationen, Demonstrationen anzumelden, von den Behörden unterbunden. Auch Kinder sind betroffen – nicht nur durch die Rekrutierung als Kämpfer, sondern auch durch frühe Verheiratung, die in Krisenzeiten zunimmt.

Im Süden, wo der Präsidialrat und der STC dominieren, sind die Verhältnisse etwas offener, doch auch hier gibt es gravierende Einschränkungen. Sicherheitskräfte des STC haben wiederholt politische Gegner festgenommen. Menschenrechtsgruppen berichten von geheimen Haftzentren in Aden und Lahj. Zudem wird Gewalt gegen Migranten dokumentiert, die über den Golf von Aden ins Land kommen und dort oft von lokalen Milizen misshandelt oder zwangsweise zurückgeschoben werden.

Die Pressefreiheit ist in allen Teilen des Landes stark eingeschränkt. Nach Angaben internationaler Organisationen sind seit Kriegsbeginn Dutzende Journalisten getötet worden, viele weitere sitzen in Haft. Im Jahr 2025 gilt der Jemen weiterhin als eines der gefährlichsten Länder für Medienschaffende weltweit. Redaktionen in Sanaa stehen unter direkter Kontrolle der Huthis, Inhalte werden zensiert, Internetseiten blockiert. In Aden gibt es zwar private Medien, doch auch hier führen Machtkämpfe und Einschüchterungen dazu, dass Journalisten Selbstzensur üben. Immer wieder berichten Reporter ohne Grenzen von Fällen, in denen Journalisten nach kritischen Artikeln bedroht oder für Tage verschwunden sind.

Zahlen verdeutlichen die Dimension: Laut UN-Angaben werden seit 2015 täglich Menschen willkürlich inhaftiert. Es gibt tausende dokumentierter Fälle in denen Kinder als Kämpfer rekrutiert wurden. Menschenrechtsgruppen berichten ebenfalls von tausenden Frauen, die seit Beginn des Krieges zwangsverheiratet oder durch wirtschaftliche Not in ausbeuterische Situationen gedrängt wurden. Bei den Medien dokumentierte das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) allein zwischen 2022 und 2025 mehr als 120 schwere Übergriffe auf Reporter, darunter Festnahmen, Folter und gezielte Angriffe.

Die Situation verschärft sich durch die schwache Justiz. Gerichte arbeiten unregelmäßig, und Urteile hängen oft von lokalen Machtstrukturen ab. Internationale Beobachter stellen fest, dass sowohl im Norden als auch im Süden kaum ein funktionierender Rechtsstaat existiert. Wer in Haft gerät, hat selten Zugang zu Anwälten oder fairen Verfahren.

Menschenrechte Jemen 2025
Grafik: OCHA/YHF
Ausblick: Der Jemen im kommenden Jahr

Ein Blick auf die kommenden zwölf Monate zeigt, wie komplex und widersprüchlich die Aussichten für den Jemen sind. Der Krieg ist in eine Phase eingetreten, die sich durch ein fragiles Gleichgewicht auszeichnet: Keine Seite ist stark genug, einen vollständigen Sieg zu erringen, und keine Seite ist schwach genug, um vollständig zu verlieren. Das bedeutet, dass die Konfliktlinien auch 2026 bestehen bleiben werden – mit allen Folgen für die Bevölkerung.

Eine grundlegende Veränderung könnte nur dann eintreten, wenn die wichtigsten Regionalmächte ihre Interessen neu sortieren oder miteinander abstimmen. Der Iran müsste seine militärische und politische Unterstützung für die Huthis einschränken, doch das erscheint angesichts seines strategischen Kalküls gegenüber Saudi-Arabien und Israel höchst unwahrscheinlich. Saudi-Arabien wiederum steht unter Druck, seine Grenze im Süden abzusichern und zugleich die hohen Kriegskosten zu reduzieren, hat aber bislang keine Lösung gefunden, die mit den Huthis verhandelbar wäre. Die Vereinigten Arabischen Emirate halten am STC fest, weil er ihnen Zugriff auf Häfen und Inseln verschafft. Auch sie haben daher wenig Anreiz, ihre Position aufzugeben.

Die USA könnten durch stärkere diplomatische Initiativen versuchen, ein neues Verhandlungsformat aufzubauen. In der Praxis sind ihre Prioritäten jedoch auf den Schutz der Schifffahrtswege im Roten Meer konzentriert. Solange Raketen und Drohnen den internationalen Handel bedrohen, bleibt Washingtons Engagement militärisch geprägt. Europa wiederum ist mit eigenen Krisen beschäftigt. Zwar könnte die EU humanitäre Hilfe und Wiederaufbauprogramme ausweiten, doch politische Hebel im Jemen hat sie kaum. China und Russland zeigen zwar wachsende Präsenz am Horn von Afrika, handeln jedoch in erster Linie aus eigenem geopolitischem Interesse. Ein abgestimmtes Vorgehen dieser Mächte, das den Menschen im Jemen hilft, ist nicht erkennbar.

Auch auf innerjemenitischer Ebene sind die Aussichten begrenzt. Die Huthis haben ihre Machtstrukturen im Norden konsolidiert und keine Absicht, sie aufzugeben. Der Präsidialrat ist geschwächt durch interne Spannungen und mangelnde Legitimität. Der STC drängt weiter auf eine Unabhängigkeit des Südens und blockiert damit zentrale Schritte zu einer einheitlichen Staatlichkeit. Selbst wenn es gelingen würde, diese Gruppen an einen Tisch zu bringen, wären die Positionen so weit voneinander entfernt, dass ein tragfähiges Abkommen kaum erreichbar erscheint.

Finanzielle Faktoren verstärken diese Blockade. Einnahmen aus Häfen, Öl- und Gasfeldern sind entscheidend, um Kämpfer zu bezahlen und Verwaltungen am Laufen zu halten. Solange diese Ströme zwischen den Fronten umkämpft sind, bleibt der Anreiz gering, Kompromisse einzugehen. Internationale Hilfsgelder sichern zwar das Überleben vieler Familien, werden aber zugleich von den Machthabern als Druckmittel genutzt.

Eine Rolle könnte die internationale Gemeinschaft spielen, indem sie humanitäre Zugänge energischer einfordert, Waffenlieferungen stärker kontrolliert und ihre diplomatischen Formate bündelt. Dafür müssten jedoch Mächte wie die USA, Europa, Russland, China, Saudi-Arabien, die Emirate, Iran und Israel an einen Tisch gebracht werden – eine Konstellation, die angesichts globaler Spannungen fast unmöglich erscheint. Realistisch ist deshalb, dass auch im Jahr 2026 der Jemen zerrissen bleibt: ein Land, in dem sich regionale Machtkämpfe, geopolitische Interessen und lokale Rivalitäten überlagern und in dem die Bevölkerung weiterhin am meisten leidet.

Der Ausblick auf das kommende Jahr ist damit weniger eine Frage des Friedens als eine Frage des Durchhaltens. Der Krieg im Jemen bleibt ein eingefrorener Konflikt mit hoher Temperatur – nie still genug, um zu enden, und nie heiß genug, um entschieden zu werden.

Jemen 2025

In der Stille des Dorfes am Rande des Sarawat-Gebirges kehrt auch an diesem Abend wieder derselbe Rhythmus ein: der Wind in den Terrassen, das Knattern des Generators, die Runde um den Hof, das kurze Leuchten eines Handys. Doch hinter der Routine bleibt die Sorge. Familien wissen nie, ob Medikamente reichen, wenn ein Kind krank wird, ob das wenige Wasser sauber genug ist oder ob der nächste Transport mit Mehl überhaupt ankommt. Viele haben Angehörige, die kämpfen oder auf Schiffen arbeiten, und jede Nachricht kann eine schlechte sein. Die Angst ist weniger die vor Einschlägen, sondern die vor dem langsamen Erschöpfen von Kraft, Vorräten und Hoffnung. Und so misst sich das Leben hier nicht an Frontlinien, sondern daran, ob man als Familie den nächsten Tag gemeinsam übersteht.


Quellenliste mit Links
  • Amepres Lokaljournalisten-Netzwerk Sanaa/Aden/Dschibuti

UN/OCHA & Cluster, humanitäre Lage, Finanzierung, Sektor-Updates

WHO/UNICEF/GPEI – Gesundheit, Cholera, Polio, Impfungen

IOM/DTM – Binnenvertreibung

WFP/FAO/IPC – Ernährung, Preise, Wechselkurse

Wechselkurse Nord/Süd

Häfen/Seeverkehr

  • UNVIM – United Nations Verification and Inspection Mechanism (Hodeidah). unvim.org

Maritime Sicherheit/UKMTO/Red Sea

Militärische Ereignisse/Cross-border

Pressefreiheit/Menschenrechte

Energie/Ölexporte

Makro/Wirtschaft/Remittances/Finanzhilfen

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