Syrien: Assad ist Geschichte – und nun?
Titelbild: KI generiert – Assad und die Seinen haben das Land verlassen
Nach über einem Jahrzehnt Bürgerkrieg ist die Herrschaft von Baschar al-Assad beendet. Die syrischen Rebellen haben innerhalb weniger Tage die Kontrolle über das Land übernommen. Der Fall von Damaskus markiert das Ende einer Ära, während Assad mutmaßlich im Iran oder den Emiraten Zuflucht gefunden hat. Es gibt Hinweise, dass er sein Vermögen mithilfe eines in Gambia registrierten Privatjets außer Landes gebracht haben könnte, während seine Familie nach Russland geflüchtet ist.
Die Rebellen feiern ihren Sieg. Syrien steht vor einer ungewissen Zukunft. Um die aktuelle Lage zu verstehen, werfen wir einen umfassenden Blick auf die Ereignisse der letzten Woche, die beteiligten Akteure und die tiefgreifenden geopolitischen Konsequenzen.
Ein Rückblick auf die entscheidenden Tage – der Anfang
Die Offensive in Aleppo: Am 27. November 2024 begann die Offensive der Rebellen mit der Einnahme von Aleppo, der zweitgrößten Stadt Syriens. Der Angriff wurde von der islamistischen Gruppe Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) angeführt und zielte darauf ab, die Verteidigungslinien des Regimes schnell zu überwinden.
INFO: Wer sind die Rebellen? Die wichtigsten Gruppen im Überblick
Die Offensive wurde von einer Vielzahl von Rebellengruppen getragen, die trotz ideologischer Unterschiede ein gemeinsames Ziel hatten: das Ende der Assad-Herrschaft.
1. Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS)
Die HTS ist die dominierende Kraft unter den Rebellen und führte die Offensive an. Ursprünglich als Al-Nusra-Front bekannt, war die HTS eine Filiale von Al-Qaida, distanzierte sich jedoch offiziell von der Organisation.
- Ideologie: Islamistisch, mit einem Schwerpunkt auf regionalem Jihad.
- Führung: Abu Muhammad al-Dschaulani, der von den USA mit einem Kopfgeld von 10 Millionen Dollar gesucht wird.
- Unterstützung: Die Gruppe wird durch wohlhabende Einzelpersonen aus der Region sowie indirekt durch die Türkei gestützt.
Die HTS hat eine zwiespältige Rolle. Einerseits verfolgt sie eine harte islamistische Agenda, andererseits bemüht sie sich um ein moderateres Image, um internationale Akzeptanz zu gewinnen.
2. Syrische Nationalarmee (SNA)
Die SNA ist eine von der Türkei unterstützte Koalition aus islamistischen Milizen.
- Ideologie: Islamistisch, jedoch stärker an türkischen Interessen orientiert.
- Ziele: Bekämpfung des Assad-Regimes und Eindämmung kurdischer Autonomiebestrebungen.
- Rolle in der Offensive: Die SNA spielte eine Schlüsselrolle bei der Einnahme von Gebieten im Norden und Osten Syriens.
Die Türkei nutzt die SNA als Proxy, um ihre geopolitischen Interessen in Syrien zu sichern, einschließlich der Schaffung einer Pufferzone entlang der Grenze.
3. Syrische Demokratische Kräfte (SDF)
Die SDF, dominiert von kurdischen Milizen, ist eine weitere zentrale Kraft im syrischen Bürgerkrieg.
- Ideologie: Säkular und sozialistisch, mit Verbindungen zur kurdischen PKK.
- Ziele: Autonomie im Nordosten Syriens und Schutz der kurdischen Bevölkerung.
- Rolle: Die SDF hat ihre Kontrolle über den Grenzübergang zum Irak gesichert und die Grenze geschlossen, um Nachschubwege des Assad-Regimes zu blockieren.
Die Beziehung zwischen der SDF und den anderen Rebellengruppen ist komplex. Während sie gemeinsam gegen Assad vorgehen, bestehen erhebliche Spannungen aufgrund ideologischer Unterschiede.
Durch den Einsatz von VBIEDs (fahrzeuggestützten Sprengsätzen) wurden Lücken in den Verteidigungsanlagen der syrischen Streitkräfte geschaffen. Innerhalb weniger Stunden war Aleppo unter der Kontrolle der Rebellen. Die Einnahme dieser strategisch und symbolisch bedeutenden Stadt bereitete den Boden für weitere schnelle Geländegewinne.
Hama und Homs
Der strategische Durchbruch: Nach Aleppo richteten die Rebellen ihre Offensive auf die Städte Hama und Homs, die als entscheidende Knotenpunkte des Landes gelten. Hama, das den Norden mit dem Süden Syriens verbindet, fiel innerhalb weniger Tage. Berichte unserer lokalen Mitzarbeiter zufolge leisteten die syrischen Streitkräfte nur minimalen Widerstand, was auf eine massive Demoralisierung hindeutet. Homs, das Damaskus mit der Küstenregion Latakia verbindet, war lange Zeit ein Bollwerk des Assad-Regimes. Der Verlust von Homs bedeutete nicht nur eine Schwächung der Verteidigungsfähigkeit, sondern isolierte auch die verbleibenden loyalen Kräfte in Latakia. Die Rebellen waren damit nur noch wenige Kilometer von einem strategischen Sieg entfernt.
Damaskus fällt
Das Ende der Assad-Herrschaft: Der endgültige Zusammenbruch des Regimes kam mit der Einnahme von Damaskus, der Hauptstadt Syriens. Die Rebellen stürmten zentrale Regierungsgebäude, während Baschar al-Assad Berichten zufolge bereits das Land verlassen hatte. Assads Familie suchte Zuflucht in Russland. Mit der Übernahme von Damaskus erklärten die Rebellen die Staatsmacht für sich und kündigten die Bildung einer Übergangsregierung an: „Assad ist Geschichte. Jetzt liegt es an uns, Syrien neu aufzubauen.“
Die Lage in der Alawitenhochburg Latakia
Die Region Latakia, im Westen Syriens gelegen, ist seit Jahrzehnten die Hochburg der Alawiten, der religiösen Minderheit, zu der auch Baschar al-Assad gehört. Während die Rebellen in den letzten Tagen weite Teile Syriens unter ihre Kontrolle gebracht haben, bleibt Latakia eine der wenigen Regionen, die sich noch außerhalb ihres Einflusses befinden. Mit dem Verlust von Aleppo, Hama, Homs und schließlich Damaskus zog sich ein Teil der verbliebenen loyalen Streitkräfte des Assad-Regimes nach Latakia zurück.
Die Region dient derzeit als letzter Rückzugsort für ranghohe Offiziere, militärische Führer und pro-Assad-Milizen. Es wird vermutet, dass sie versuchen, in der alawitischen Heimat eine Verteidigungslinie aufzubauen, um zumindest diese Gebiete zu halten. Latakia ist nicht nur kulturell und historisch für die Alawiten bedeutend, sondern auch strategisch wichtig. Die Region grenzt ans Mittelmeer und beherbergt die russischen Militärbasen, darunter den Luftwaffenstützpunkt Hmeimim. HTS-Führer al-Jolani hatte bereits eine Generalamnestie für Assads-Militär-Verantwortliche in Aussicht gestellt. Doch diese ist schon deshalb sehr unwahrscheinlich, weil man im Land die großen Massaker der Assad-Herrschaft, wie u.a. 1982 in Hamas unter dem Kommando des damaligen Verteidigungsminister Mustafa Tlas, wohl niemals vergessen wird. Ob die Alawiten überhaupt Teil einer langfristigen Lösung sein können, ist also sehr fraglich.
Kurdische Milizen: Kontrolle über den Nordosten
Während die Rebellen das Assad-Regime stürzten, haben die kurdischen Milizen der YPG die Position der SDF im Nordosten Syriens gefestigt. Die Übernahme des Grenzübergangs zum Irak und die Schließung der Grenze verhindern nicht nur den Nachschub für Assad, sondern stärken auch die Kontrolle der Kurden über ihre Gebiete. Die Kurden streben weiterhin eine Autonomie an, was sie potenziell in Konflikt mit der neuen Rebellenregierung bringen könnte.
Assads Flucht und sein Vermögen
Es gibt Hinweise, dass Baschar al-Assad in den letzten Tagen seiner Herrschaft sein Vermögen außer Landes gebracht haben könnte. Ein in Gambia registrierter Privatjet wurde mehrfach zwischen Syrien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) gesichtet. Die genauen Details zu diesen Flügen sind unklar, aber es wird vermutet, dass Assad finanzielle Ressourcen in Sicherheit bringen wollte. Ob auch Assad selbst in die Emirate geflohen ist oder ob er sich aktuell im Iran befindet, ist unklar.
Internationale Akteure: Russland, Iran und die Hisbollah
Russland, das über Jahre hinweg ein zentraler Unterstützer des Assad-Regimes war, konnte in den letzten Tagen keine entscheidenden Maßnahmen ergreifen. Die Ressourcen Moskaus sind durch den Ukraine-Krieg stark eingeschränkt, und die russischen Militärbasen in Latakia und Tartus sind nun gefährdet. Der Iran, ein weiterer wichtiger Unterstützer Assads, hat durch die Schließung der syrisch-irakischen Grenze erheblich an Einfluss verloren. Die kurdische Kontrolle über die Grenze unterbricht die Nachschubwege und schwächt die Position des Irans in Syrien. Die Hisbollah, die einst als entscheidender militärischer Unterstützer des Assad-Regimes galt, ist durch Verluste in Syrien und israelische Angriffe erheblich geschwächt.
Geopolitische Auswirkungen auf den „Arabischen Halbmond“
Der Sturz von Baschar al-Assad hat demnach tiefgreifende geopolitische Konsequenzen für den sogenannten „Arabischen Halbmond“, der die Region von Syrien über den Libanon bis zum Irak umfasst. Assads Regime fungierte lange als zentraler Akteur in diesem Gebiet, insbesondere durch seine engen Verbindungen zum Iran und zur libanesischen Hisbollah.
Mit dem Machtverlust Assads steht der Iran vor erheblichen strategischen Herausforderungen. Teherans Einfluss in Syrien diente als Brücke zur Hisbollah im Libanon, wodurch ein durchgehender schiitischer Einflussbereich vom Iran bis zum Mittelmeer entstand. Der Zusammenbruch des Assad-Regimes unterbricht diese Landverbindung, schwächt die Hisbollah logistisch und isoliert den Iran in der Region.
Gleichzeitig eröffnen sich für sunnitische Staaten wie Saudi-Arabien und Jordanien neue Möglichkeiten, ihren Einfluss im nördlichen Nahen Osten auszubauen. Die Entmachtung Assads könnte zu einer Schwächung schiitischer Milizen führen und das regionale Machtgleichgewicht zugunsten sunnitischer Akteure verschieben.
Für den Libanon bedeutet der Verlust seines syrischen Verbündeten eine potenzielle Destabilisierung. Die Hisbollah, die stark von syrischer Unterstützung abhängig war, könnte an Einfluss verlieren, was zu internen Machtkämpfen und einer Verschärfung der politischen Spannungen führen kann.
Insgesamt markiert der Sturz Assads einen signifikanten Wandel im „Arabischen Halbmond“. Die bisherigen Allianzen und Machtstrukturen werden neu geordnet, was sowohl Chancen für eine Stabilisierung als auch Risiken für neue Konflikte birgt.
Die Zukunft Syriens: Herausforderungen und Chancen
Die Aussagen von Abu Mohammad al-Jolani zur Zukunft Syriens stoßen auf Skepsis. Während er in öffentlichen Statements betont, Minderheiten schützen und ein auf Rechtsstaatlichkeit basierendes System etablieren zu wollen, widersprechen viele Beobachtungen vor Ort dieser Darstellung. HTS, die Organisation, die er anführt, hat eine Vergangenheit, die stark von islamistischer Ideologie und Gewalt geprägt ist. Ihre Ursprünge als Teil der Al-Nusra-Front, einer ehemaligen Al-Qaida-Filiale, werfen weiterhin Schatten auf ihre Glaubwürdigkeit.
Obwohl al-Jolani versichert, Minderheiten wie Christen und Drusen zu schützen, gibt es keine Garantie dafür, dass diese Zusagen langfristig eingehalten werden. In den bisher von der HTS bisher kontrollierten Gebieten im Nordwesten des Landes, wurden Minderheiten marginalisiert, und islamistische Dogmen waren Grundlage der Herrschaft. Zudem sind Jolani und HTS international weiterhin als terroristische Organisation eingestuft, was ihre Fähigkeit, diplomatische Beziehungen aufzubauen und internationale Hilfe für den Wiederaufbau Syriens zu mobilisieren, nicht einfach macht.
Jürgen Dirrig, Syrien-Experte der AMEPRES, warnt außerdem davor, dass al-Jolani sein moderateres Auftreten als strategisches Mittel nutzen könnte, um internationale Akzeptanz zu gewinnen, während die radikalen Elemente seiner Organisation im Verborgenen bleiben. Solche taktischen Manöver wurden in der Vergangenheit von ähnlichen Gruppen genutzt, um sich Macht zu sichern. Bestes Beispiel sind die Taliban in Afghanistan. Die Frage, ob die Führung unter Jolani tatsächlich inklusiv und pluralistisch sein kann, bleibt daher sehr fraglich. Die kommenden Monate werden zeigen, ob seine jetzigen Worte von Taten begleitet werden oder ob es sich lediglich um eine politische Strategie handelt.
Ein Wendepunkt in der Geschichte Syriens – Chancen und Herausforderung
Der Sturz von Baschar al-Assad markiert das Ende einer Ära und den Beginn eines neuen Kapitels für Syrien. Während die Rebellen ihren Erfolg feiern, stehen sie vor der enormen Aufgabe, das Land zu stabilisieren, die humanitäre Krise zu bewältigen und eine tragfähige Regierung zu schaffen. Die kommenden Wochen und Monate werden entscheidend sein, um die Zukunft des Landes zu gestalten. Die internationale Gemeinschaft sollte Jolani jetzt beim Wort nehmen und ihn darauf festnageln. Freiheit für die Menschen in Syrien ist im aktuellen Momentum denkbar. Optionen gibt es hierfür mehrere.