Syrien 2024 – Prekäre Gemengelage im „vergessenen Staat“
Der syrische Konflikt, der seit 2011 das Land in unermessliches Leid und Zerstörung gestürzt hat, ist in den letzten Jahren zunehmend aus dem Blickfeld der westlichen Medien gerückt.
Der signifikante Rückgang des Flüchtlingsaufkommens, das nach Westeuropa drängt, hat die direkte Relevanz des Konflikts für die westliche Öffentlichkeit verringert. Viele syrische Flüchtlinge mussten aufgrund internationaler Absprachen und politischer Hürden in den Nachbarländern wie der Türkei, dem Libanon, Jordanien, Irak und Ägypten bleiben, anstatt nach Westeuropa zu fliehen. Dies hat zu einer erheblichen Abnahme der medialen Aufmerksamkeit geführt, da die Krise in Syrien nicht länger als unmittelbare Bedrohung oder Herausforderung für westliche Länder wahrgenommen wird. Mehr noch: Große Teile der Europäerinnen und Europäer glauben, dass es in Syrien heute Frieden gibt. Politisch getriebene Diskussionen darüber, ob das Land mittlerweile wieder als „sicheres Herkunftsland“ klassifiziert werden kann, hat diesen Eindruck bei der Bevölkerung verstärkt.
De facto aber hat sich der Bürgerkrieg, abseits dieser westlichen Wahrnehmung, zu einem der grausamsten und komplexesten schwelenden Konflikte der jüngeren Geschichte entwickelt.
Der Konflikt mit dem IS und seine Folgen
Die Zerschlagung des Islamischen Staates (IS) in Syrien markierte einen wichtigen, aber keineswegs abschließenden Meilenstein in diesem Konflikt. Nachdem der IS in weiten Teilen des Landes zurückgedrängt wurde, blieb die Sicherheitslage weiterhin prekär. Der IS ist zwar nicht mehr in der Lage, große Gebiete zu kontrollieren, aber bleibt im Untergrund aktiv und verübt weiterhin Anschläge in verschiedenen Landesteilen.
Machtverhältnisse und internationale Akteure
Syrien ist heute in drei Teile gespalten. Das Assad-Regime, das rund 60 Prozent des Territoriums kontrolliert, hält sich nur dank der massiven Unterstützung durch den Iran und Russland an der Macht. Die Hisbollah-Miliz aus dem Libanon und die iranischen Revolutionsgarden spielen dabei eine zentrale Rolle. Russland, das seit 2015 militärisch in Syrien engagiert ist, hat seinen Luftwaffenstützpunkt in Tartus, den es für seine militärischen Operationen in der Region nutzt. Trotz des Rückgangs seines militärischen Engagements in Syrien, um Ressourcen für den Krieg in der Ukraine zu bündeln, bleibt Russland präsent und nutzt Syrien als strategischen Vorposten in seinem hybriden Krieg gegen den Westen. Im Nordosten Syriens hat sich eine kurdische Selbstverwaltung etabliert, die weitgehend eigenständig agiert. Im Nordwesten, insbesondere in den Regionen um Aleppo und Idlib, haben sich oppositionelle Rebellen festgesetzt, die von der Türkei unterstützt werden. Radikale Islamisten der Hayat Tahrir al-Sham (HTS), ehemals Al-Nusra-Front, kontrollieren kleinere Gebiete in diesen Regionen.
Internationale Interessen und Unterstützung
Die internationale Bühne in Syrien ist von komplexen und oft konkurrierenden Interessen geprägt. Die arabischen Staaten haben Syrien 2023 wieder in die Arabische Liga aufgenommen, was als politischer Erfolg für das isolierte Assad-Regime gilt. Dieser Schritt ist vor allem politisch getrieben und zielt darauf ab, den iranischen Einfluss in Syrien zurückzudrängen.
Eine direkte Konfrontation zwischen Israel und Iran weitet sich auf Syrien aus. Der Gaza-Krieg hat signifikante Auswirkungen auf Syrien, indem er die militärischen Aktivitäten und die geopolitischen Spannungen in der Region verschärft. Israelische Luftangriffe auf pro-iranische Stellungen in Syrien haben zugenommen, während die Türkei ihre Drohnenangriffe im Nordosten des Landes intensiviert hat. Die Situation in Gaza stärkt potenziell die Position des Assad-Regimes gegenüber der antiisraelischen Akteure, da Assad sich als Teil der „Achse des Widerstands“ gegen Israel positioniert.
Der Russland-Ukraine-Krieg verschärft Syriens humanitäre Krise durch steigende Preise, verstärkte Instabilität und nachlassende internationale sowie diplomatische Aufmerksamkeit.
Das Leben in Syrien heute
Das Leben in Syrien ist heute geprägt von unermesslichem Leid und Unsicherheit. Zehn Jahre Bürgerkrieg haben mindestens 500.000 Todesopfer gefordert und mehr als 13 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Über 12 Millionen Menschen leiden an Hunger, und die humanitäre Krise hat sich durch die COVID-19-Pandemie und die wirtschaftliche Notlage weiter verschärft. Die Infrastruktur des Landes ist weitgehend zerstört. In Nordwestsyrien, das besonders hart getroffen wurde, leben 1,48 Millionen Menschen in Flüchtlingscamps oder provisorischen Siedlungen. Hier werden 99 Prozent der humanitären Dienstleistungen von NGOs erbracht, da die staatlichen Strukturen zusammengebrochen sind. Die Sicherheitslage bleibt äußerst volatil. Kampfhandlungen und Anschläge sind an der Tagesordnung, und die Bevölkerung lebt in ständiger Angst. Entführungen, willkürliche Verhaftungen und Hinrichtungen sind alltäglich, und die Kriminalität hat seit Beginn des Konflikts erheblich zugenommen. Frauen und Kinder sind besonders gefährdet und leiden unter den harten Bedingungen.
Wirtschaftslage und humanitäre Hilfe
Die wirtschaftliche Situation in Syrien ist katastrophal. Die Landwirtschaft, die Viehzucht und die Lebensmittelproduktion sind durch den Krieg und die COVID-19-Pandemie schwer getroffen. Dies hat zu erheblichen Preiserhöhungen und einer Verknappung von Lebensmitteln geführt, was die Hungerkrise weiter verschärft. Die Schließung der Grenzen und das gesunkene Spendenaufkommen haben die humanitäre Lage zusätzlich belastet. Organisationen wie Malteser International und andere NGOs sind vor Ort, um die Bevölkerung vor dem Schlimmsten zu bewahren. Ihre Hilfe konzentriert sich jedoch vor allem darauf, Leben zu retten. Die zerstörten Strukturen können sie natürlich nicht wieder aufzubauen.
Eine dauerhafte Lösung für den Konflikt in Syrien zu finden, erweist sich als äußerst komplex und herausfordernd. Dennoch gibt es verschiedene Bestrebungen und Ansätze, die auf eine langfristige Stabilisierung abzielen.
Politische Lösung
Eine politische Lösung wird weithin als der einzige Weg zu einem dauerhaften Frieden angesehen. Die Vereinten Nationen setzen sich für einen inklusiven politischen Prozess ein, der auf der UN-Sicherheitsratsresolution 2254 basiert. Diese Resolution sieht die Bildung einer inklusiven Übergangsregierung, die Ausarbeitung einer neuen Verfassung und die Durchführung freier und fairer Wahlen unter UN-Aufsicht vor. Allerdings blockiert das Assad-Regime bisher ernsthafte Verhandlungen mit der Opposition, was den Prozess erheblich erschwert.
Internationale Vermittlung
Verschiedene internationale Akteure bemühen sich um eine Vermittlung zwischen den Konfliktparteien. Der UN-Sondergesandte für Syrien, Geir Otto Pedersen, versucht, die Gespräche zwischen Regime und Opposition voranzubringen. Pedersen betonte immer wieder die Bedeutung der Bildung einer inklusiven Übergangsregierung, der Ausarbeitung einer neuen Verfassung und der Durchführung freier und fairer Wahlen unter UN-Aufsicht. Russland, der Iran und die Türkei führen im Rahmen des Astana-Prozesses Verhandlungen, die jedoch bisher keine durchschlagenden Erfolge erzielt haben. Seit 2017 wurden brüchige Deeskalationszonen vereinbart, sowie Gefangenenaustausche und die Einrichtung eines syrischen Verfassungskomitees. Dieses Bestreben hat die Kommunikation zwischen den Hauptakteuren zwar aufrechterhalten, eine langfristige Wirksamkeit bei der Herbeiführung einer dauerhaften Lösung bleibt aber fraglich. Außerdem ist der initiierte Prozess schon grundsätzlich umstritten, da er die Rolle der Vereinten Nationen untergräbt und das Assad-Regime stärkt.
Regionale Stabilisierung
Eine dauerhafte Lösung erfordert eine Stabilisierung der gesamten Region. Die Arabische Liga hat Syrien 2023 wieder aufgenommen, um den iranischen Einfluss zurückzudrängen und die regionale Dynamik zu verändern. Es gibt Bestrebungen, die Beziehungen zwischen Syrien und seinen Nachbarländern zu normalisieren, was langfristig zu einer größeren Stabilität in der Region beitragen könnte. Ergebnisse: keine! Und nach Beginn des Gaza-Krieges destabilisiert sich die Region weiter. Dies leistet gegenteiligen Anschub.
Bekämpfung der Straflosigkeit
Die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen wird als wichtiger Schritt für eine Versöhnung angesehen. Internationale Bemühungen konzentrieren sich auf die Dokumentation von Verbrechen und die Verfolgung der Verantwortlichen. Es gibt Forderungen nach der Einrichtung von Mechanismen zur Übergangsjustiz, um die Opfer des Konflikts Gerechtigkeit zu verschaffen und eine Kultur der Rechenschaftspflicht zu etablieren.
Wirtschaftlicher Wiederaufbau
Für eine langfristige Stabilität ist der wirtschaftliche Wiederaufbau Syriens entscheidend. Internationale Geber stellen Hilfen in Aussicht, knüpfen diese aber an politische Reformen. Pläne für den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur und die Wiederbelebung der Wirtschaft sind in der Diskussion, jedoch hängt auch deren Umsetzung von der politischen Stabilität und der Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft ab. Beides ist aktuell fern jedweder Realität.
Rückkehr von Flüchtlingen
Die sichere und würdevolle Rückkehr von Millionen syrischer Flüchtlinge ist ein wichtiger Aspekt einer dauerhaften Lösung. Programme zur Reintegration von Rückkehrern sind in Planung, jedoch hängt ihre Umsetzung von der Verbesserung der Sicherheitslage und Lebensbedingungen in Syrien ab. Die humanitäre Krise und wirtschaftliche Notlage müssen gelindert werden, um den Flüchtlingen eine Perspektive für ihre Rückkehr zu bieten. In das heutige Syrien kann längst noch niemand ohne Angst zurückkehren.
Herausforderungen
Zu diesen, oft politisch halbherzigen Bestrebungen, gibt es ganz grundsätzliche Hindernisse für eine dauerhafte Lösung. Die Fragmentierung des Landes in verschiedene Einflusszonen, die divergierenden Interessen externer Akteure wie Russland, Iran, Türkei und westlicher Staaten, sowie die anhaltende humanitäre Krise und wirtschaftliche Notlage behindern den Weg zu einem stabilen und friedlichen Syrien. Darüber hinaus bleibt das Fortbestehen terroristischer Gruppen wie des IS eine Bedrohung für die Stabilität des Landes. Die weiter Destabilisierung des Nahen Ostens macht einen auf Syrien beschränkten Handlungsansatz unmöglich.
Länder des Nahen Ostens | Politische Lage (sehr zugespitzt) |
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Ägypten | Präsident Sisi konzentriert sich auf wirtschaftliche Stabilisierung und Infrastrukturprojekte, während es weiterhin Bedenken hinsichtlich der Menschenrechte gibt. |
Bahrain | Die Monarchie unterhält enge Beziehungen zu Saudi-Arabien und den USA, steht jedoch vor innenpolitischen Spannungen mit der mehrheitlich schiitischen Bevölkerung. |
Iran | Der Iran steht im Fokus internationaler Spannungen wegen seines Nuklearprogramms und seiner regionalen Einflussnahme im Gaza-Krieg, während innenpolitische Unruhen andauern. |
Irak | Der Irak bemüht sich um Stabilität nach dem Abzug der US-Truppen, kämpft jedoch weiterhin mit erheblichen Sicherheitsproblemen durch Terrorgruppen und internen politischen Spannungen. |
Israel | Israel, vom Westen unterstützt, ist weiterhin im offenen Krieg mit den Palästinensern und in Konflikten mit regionalen arabischen Nachbarn verwickelt. |
Jordanien | Jordanien steht vor wirtschaftlichen Herausforderungen und einer Flüchtlingskrise, bleibt jedoch politisch unter der Führung von König Abdullah II relativ stabil. |
Kuwait | Kuwait arbeitet an wirtschaftlicher Diversifizierung und politischen Reformen innerhalb seiner konstitutionellen Monarchie, während es eine aktive politische Partizipation fördert. |
Libanon | Der Libanon kämpft mit einer tiefgreifenden politischen und wirtschaftlichen Krise, instabilen Regierungsstrukturen und erheblichen humanitären Herausforderungen. |
Oman | Oman bewahrt eine stabile Monarchie und konzentriert sich auf wirtschaftliche Diversifizierung sowie internationale diplomatische Beziehungen. |
Katar | Katar treibt wirtschaftliche Entwicklung und internationales Engagement voran, trotz regionaler Spannungen wie der Blockade durch benachbarte Länder. |
Saudi-Arabien | Saudi-Arabien führt Wirtschaftsreformen unter Vision 2030 durch, liberalisiert soziale Bereiche und übt weiterhin dominanten regionalen Einfluss aus, insbesondere im Jemen. |
Syrien | Syrien ist heute in drei Machtbereiche zersplittert: das von Russland und Iran gestützte Assad-Regime, eine kurdische Selbstverwaltung im Nordosten und türkisch unterstützte Rebellen sowie radikale Islamisten im Nordwesten. Die humanitäre Krise dauert an. |
Türkei | Die Türkei steht vor innenpolitischen Spannungen und wirtschaftlichen Herausforderungen, während die komplexe Beziehungen zu EU und NATO schwierig ist. |
Vereinigte Arabische Emirate | Die VAE verfolgen eine Politik der wirtschaftlichen Diversifizierung und des internationalen Engagements mit Fokus auf Technologie und Tourismus, bei gleichzeitiger Einschränkung politischer Freiheiten. |
Jemen | Der Jemen befindet sich in einem anhaltenden Bürgerkrieg und einer schweren humanitären Krise, beeinflusst durch internationale Interventionen und regionale Machtkämpfe. |
Palästina | Palästina kämpft gegen Israel und um das eigene Überleben. |
Eine dauerhafte Lösung für Syrien erforderte einen umfassenden Ansatz, der politische, sicherheitspolitische, wirtschaftliche und humanitäre Aspekte für den globalen Nahen Osten berücksichtigt.
Außerdem bleibt Syrien ein Spielfeld internationaler Machtinteressen, in dem das Assad-Regime trotz humanitärer Krise durch geschicktes Taktieren zwischen Russland, Iran und anderen Akteuren an der Macht bleibt. Die politische Zersplitterung und die Einflussnahme externer Mächte verhindern eine Lösung des Konflikts zusätzlich.
Angesichts der regionalen Komplexität und den vielfältigen internationalen Interessen bleibt der Weg zu einem stabilen und friedlichen Syrien lang, schwierig und abhängig von geopolitischen Entwicklungen. Weltweit fehlen klare Konzepte und das politische Interesse an menschenwürdigen Lösungen, die den Frieden priorisieren. Das zeigt sich nirgendwo deutlicher als in Syrien.
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